Vor kurzem jährte sich ein legendärer Tag zum 50. Mal: Die Schweizer Männer beschlossen die Einführung des Frauenstimmrechts. In den aktuellen Kommentaren konnte man dazu sinngemäss lesen: «Damals wurde die Schweiz von einer halben zu einer ganzen Demokratie». Das stimmt allerdings nicht: Die Demokratie ist noch lange nicht am Ende ihrer Entwicklung angelangt. Mehr als ein Drittel der Menschen in der Schweiz dürfen immer noch nicht wählen und abstimmen. Unser Ziel muss sein: Ein Mensch, eine Stimme.

An den Nationalratswahlen im Oktober 2019 durften genau 5’459’218 Wahlberechtigte teilnehmen. Das entspricht 64,8 % der gesamten Bevölkerung, also noch ziemlich weit von 100 Prozent entfernt. Wenn wir in der Geschichte etwas zurückblättern, dann stellen wir fest: 1967, als letztmals nur Männer das nationale Parlament bestimmen durften, waren gerade mal 25,7 % aller Menschen in der Schweiz wahlberechtigt! Vier Jahre später waren es dann schon rund 57 Prozent. Den höchsten Anteil hatten wir 1991, nachdem die Wahrecht-Altersgrenze von 20 auf 18 Jahre hinuntergesetzt wurde: Nun waren 65,9 % aller Einheimischen wahlberechtigt. Seither blieb der Anteil etwa gleich, ging sogar leicht zurück.

Ziemlich genau ein Viertel unserer Bevölkerung ab 18 Jahren hat keinen Schweizer Pass und ist darum bisher vom Wählen und Mitbestimmen ausgeschlossen. Dies, obwohl diese Menschen von den Entscheidungen unmittelbar betroffen sind, obwohl die meisten Steuern, Gebühren und Sozialversicherungsbeiträge zahlen, sich vielleicht ehrenamtlich engagieren und vieles mehr. Für mich ist klar: Es lässt sich nicht rechtfertigen, das Recht auf politische Teilhabe von der Passfarbe abhängig zu machen.

Eine Möglichkeit, dies zu ändern, hat unser Parteipräsident Balthasar Glättli pünktlich zum Frauenstimmrecht-Jubiläum in die Debatte gebracht: Wer fünf Jahre in der Schweiz lebt, wird ins Stimmrechtregister angenommen. In der Märzsession wird unsere Fraktion dazu eine Parlamentarische Initiative einreichen. Dabei ist einerlei, ob eine Person in die Schweiz kam, weil wir nach Arbeitskräften riefen, ob im Rahmen von Familiennachzug oder als geflüchtete Person. Die fünf Jahre tragen dem Umstand Rechnung, dass am Anfang die Bleibe vielleicht noch nicht sicher ist. Danach ist jedoch klar, wo der Lebensmittelpunkt liegt. Ähnliche Vorschläge gehen nicht von einer Dauer aus, sondern vom Aufenthaltsstatus: Mit der Niederlassungsbewilligung – dieser Name ist aussagekräftig – kommt das Stimmrecht, mit dem Status als anerkannter Flüchtling ebenso. Zwei Kantone (NE und JU) kennen das Stimmrecht für Ausländer*innen bereits auf kantonaler Ebene; diese beiden sowie GE und VD in allen Gemeinden; für die Gemeinden fakultativ ist es in GR und AR. Die vollständige Übersicht mit Karte ist hier.

Eine weitere Gruppe, die auch vom Stimm- und Wahlrecht ausgeschlossen ist, wird oft übersehen. Ich spreche von jenen, die wegen dauernder Urteilsunfähigkeit unter umfassender Beistandschaft stehen, oder, wie es die Bundesverfassung ausdrückt, die «wegen Geisteskrankheit oder Geistesschwäche entmündigt sind». Die Uno-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, welche auch die Schweiz unterzeichnet hat, fordert unmissverständlich eine diskriminierungsfreie Gewährung der Stimm- und Wahlrechte, also auch für Menschen mit geistiger Beeinträchtigung. Hierzu hat – in der Restschweiz kaum beachtet – am 29. November 2020 der Kanton Genf den entscheidenden Schritt getan und beschlossen, diese Diskriminierung aufzuheben  .

Es bleiben immer noch etwa 17 Prozent der Bevölkerung, die von der politischen Partizipation ausgeschlossen sind: Alle Menschen unter 18 Jahren. Wird Stimmrechtalter 16 bald reif sein, was bisher erst der Kanton Glarus kennt? Die Entscheide der jüngsten Zeit stimmen zuversichtlich. Nachdem wir im Nationalrat für diese Parlamentarische Initiative meiner Fraktionskollegin Sibel Arslan eine Mehrheit erreichten, hat nun die vorberatende Kommission des Ständerates auch Ja gesagt. Ob der Gesamt-Ständerat mitzieht? Wenn ja, kommt es zur Volksabstimmung, samt Notwendigkeit des Ständemehrs, da die Verfassung angepasst werden muss. Die Hürde ist hoch, aber nicht unüberwindbar.

Jedoch: Wären wir zufrieden, wenn Stimmrechtalter 16 erreicht wird? Ich wäre es nicht. Jede untere Altersgrenze ist letztlich willkürlich. Eigentlich müssten wir endlich den Gedanken zu Ende denken: Das Stimmrecht ist ein Menschenrecht und kein Altersprivileg. Es ist ein Recht, und das bedeutet, dass ich es ab dann wahrnehme, wann ich es wahrnehmen will.

Hans Saner (1934-2017), der als Philosoph in Basel tätig war, hatte vor bald 40 Jahren ein Buch mit der Sammlung diverser Aufsätze (heute wären es Blog-Beiträge) und dem sehr treffenden Titel «Die Herde der Heiligen Kühe und ihre Hirten» veröffentlicht: Kurz nachdem Stimmrechtalter 18 im ersten Anlauf gescheitert war. Der Beitrag trug den Titel «Für das Wahlalter Null». Das tönte nach einer ungeheuerlichen Provokation. Mir hat Saner die Augen geöffnet. Er zeigte messerscharf auf, dass es immer dieselben Gegenargumente sind, wenn die Gewährung des Stimm- und Wahlrechts für eine bislang ausgeschlossene Gruppe vorgeschlagen wird. Erstens: Sie wären überfordert und verstünden davon nichts. Zweitens: Sie würden sich nicht interessieren. Drittens: Sie sind leicht manipulierbar und empfänglich für extremistische Positionen. Viertens (wahlweise): Politik ist ein Ehrengeschäft, gepaart mit «Wehrwille» oder «Verantwortungsübernahme» (d.h. Besitz und Verdienst); oder aber: Politik ist ein raues Geschäft. Die bisher ausgeschlossene Gruppe ist schutzbedürftig und soll davor verschont werden.

Als der Bundesstaat 1848 gegründet wurde, waren bei weitem nicht alle volljährigen Männer stimm- und wahlberechtigt. Ausgeschlossen waren die «Armengenössigen» (jene, die keine Steuern zahlten), die Juden, die Straftäter (zum Weiterlesen). In langem Ringen wurde das Recht ausgeweitet. Die genannten Gegenargumente werden von jenen, die das Recht bereits besitzen, mit schöner Regelmässigkeit vorgebracht: gegen die Frauen, gegen die Zugezogenen, gegen diejenigen unter 18 Jahren. Wenn wir jedoch sehen, dass wir Ü18 mit Schweizerpass und ohne Beistand heute stimmen und wählen dürfen, ohne dass wir je mit einer Reifeprüfung unsere Fähigkeit unter Beweis stellen mussten, ohne dass wir ein regelmässiges Einkommen belegen müssen, ohne dass wir uns rechtfertigen müssen, wenn uns mal eine Vorlage nicht interessiert oder überfordert – dann fallen alle Gegenargumente in sich zusammen.

Ein Mensch – eine Stimme: Das Ideal der Demokratie. Wir sind erst am Ziel, wenn wir keine untere Altersgrenze mehr in die Verfassung schreiben.