Liebe Gemeinde Härkingen, liebe Kinder, liebe Erwachsene

Was macht eine gute 1.-Augustrede aus? Ich glaube, es sind drei Dinge. Erstens soll sie zum Denken anregen, zweitens soll sie patriotisch sein, nicht zu fest patriotisch, ansonsten wirkt es unglaubwürdig, aber ein wenig patriotisch schon. Und die dritte Eigenschaft einer guten  1.-Augustrede: Sie soll ein wenig Humor haben. Auch hier nicht allzu viel, und vor allem keinen Schenkelklopf-Humor: Wir sind schliesslich an einem würdigen Anlass, an einer Feier. Also auch vom Humor nur ein bisschen, nur subtil. Vielleicht denken Sie jetzt: Ein Politiker der Grünen und Humor? So einer ist mir noch nie begegnet…

Ich beginne mit dem Patriotismus. Patriotisch soll sie sein, die gute 1.-Augustrede. Am heutigen Tag erinnern landauf landab alle Festrednerinnen und Festredner an das, was unsere Schweiz derart besonders und einzigartig macht. An das, worauf wir so stolz sind. Zum Beispiel die direkte Demokratie: Auf diese sind wir ja wirklich zu Recht stolz. Sogar jene, die gar nicht von ihr Gebrauch machen sind stolz darauf: Sie würden es nicht anders wollen.

Mit gibt allerdings zu denken, wenn man das, was man so gern als Ideal bezeichnet, nur sehr ungern mit anderen teilt. Denn wenn jemand kommt und sagt: Eine derart gute Sache müssten wir doch auch für jene möglich machen, die bisher noch nicht dabei sind – dann reagieren wir oft skeptisch. Wir vergessen gern, dass nur etwa 60% der Menschen in unserem Land die direktdemokratischen Mittel nutzen dürfen. Die anderen nicht. Ich denke zum Beispiel an alle, die noch nicht 18 Jahre alt sind. Das ist immerhin fast ein Fünftel der Bevölkerung. Dieses Jahr sind es bekanntlich genau 50 Jahre her, seit auch die erwachsenen Schweizer Frauen stimmen, wählen und gewählt werden dürfen. Sie wissen, dass das zuvor lange gebraucht hat, bis unser Land soweit war. Was aber heute den meisten, die gerne auf unsere alten Traditionen verweisen, nicht mehr bewusst ist: Früher hatten auch nicht alle Schweizer Männer das Stimmrecht. In den Gemeinden durften bis vor rund 200 Jahren nur jene mitstimmen, die Bürger waren und Land besassen; also weder die Zugezogenen noch die Mittellosen. Sie sind 1830 dazu gekommen, aber auch damals musste man dem christlichen Glauben angehören. Jüdische Männer bekamen das Stimmrecht in der Schweiz erst 1874. Persönlich würde ich mir schon lange wünschen, dass wir die Vorteile unserer direkten Demokratie mit jenen teilen, die schon längstens unser Land, unsere Region, unsere Gemeinde in ihr Herz geschlossen haben, aber eben noch nicht die gleiche Farbe des Passes haben wie ich. Was mich mit Freude erfüllt: Heute, am 1. August, ist es keine Frage, dass sie alle an den Festanlässen dabei sind.

Eigentlich wird es immer schwieriger, etwas Patriotisches zu sagen. Wie ich auf diese Aussage komme? Man kann ja jetzt wieder ins Ausland reisen, zwar mit gewissen Einschränkungen, aber man kann. Vielleicht ist Ihnen auch schon aufgefallen: Wenn man in ein anderes Land reist, zum Beispiel jetzt, in der Sommerferienzeit: Am Ferienziel sind die genau gleichen Themen aktuell wie bei uns! Ich habe das soeben selbst wieder erlebt: Meine Frau und ich sind vor zwei Tagen aus den Ferien in Frankreich zurückgekehrt. Wenn man irgendwo eine Schlagziele sieht, wenn man die lokalen Fernsehsender einschaltet, dann sind es die genau gleichen Themen wie bei uns. Dabei denke ich gar nicht an Corona: Das ist zurzeit sowieso überall auf der Welt das wichtigste Thema. Ich meine auch nicht die Olympiade. Nein, ich denke an alltägliche und vordergründig lokale oder regionale Themen.

Mir war das schon «vor Corona» auf Reisen ins Ausland aufgefallen. Die Leute reden von den Verkehrsproblem, vom ewigen Stau und von den fehlenden Parkplätzen – genau wie bei uns. Die Leute reden von der Altersrente, die sich bald nicht mehr finanzieren lasse, und ob man das Rentenalter erhöhen müsste, aber ob es dann für die älteren Semester überhaupt Arbeit habe, wenn man doch mit 55 Jahren auf dem Arbeitsmarkt kaum noch eine Chance bekommt – genau wie bei uns. Die Leute reden vom Hass, der auf Facebook und auf anderen sozialen Medien verbreitet wird; von den Jungen, die keinen Anstand mehr hätten – genau wie bei uns. Die Leute wehren sich, falls sie das überhaupt dürfen, gegen eine Mobilfunkanlage mitten im Dorfzentrum – genau wie bei uns. Die Leute reden von den Extremniederschlägen oder von den Hitzeperioden, die es in dieser Art seit Menschengedenken nicht mehr gegeben habe – genau wie bei uns. Die Leute sind verwundert oder empört, dass das reichste Promille der Bevölkerung in der Coronazeit so stark wie noch nie das eigene Vermögen vermehren konnte, während jene zuerst ihre Arbeit verloren haben, die vorher schon in einer prekären Lage waren – genau wie bei uns. Und die Leute schimpfen über ihre Regierung, sie sei arrogant und würde in der Krise sowieso alles falsch machen. Und sie schimpfen über jene, die unsolidarisch sind und sich nicht impfen lassen – genau wie bei uns. Aber mit Sicherheit hält dann jemand vehement dagegen und pocht auf seine Freiheitsrechte, und sowieso wisse man noch nicht wirklich, ob die Impfung ungefährlich sei – genau wie bei uns.

Es ist wirklich nicht mehr einfach, patriotisch zu sein. Unsere Themen, unsere Leidenschaften, unsere Sorgen sind fast überall auf der Welt die gleichen. Was ist dann überhaupt noch typisch schweizerisch? Ich hatte schon fast aufgegeben, nach einer Antwort zu suchen. Aber letzte Woche in einem kleinen Städtchen in der Bretagne ist mir plötzlich klar geworden, was uns eben doch von den anderen unterscheidet. Wir haben unser Dorf, unsere Region, unser Land gern. Sie denken jetzt vielleicht – schön und gut, aber das ist ja auch überall auf der Welt dasselbe. Das stimmt und stimmt doch nicht. Niemand kommt nach den Ferien so gern in die Schweiz zurück wie die Schweizerinnen und Schweizer. Niemand hat das Gäu derart gern wie die Menschen aus dem Gäu. Solches macht uns einzigartig! Niemand ist so stolz auf Härkingen wie die Leute aus Härkingen. Denn prozentual, im Verhältnis zur Gesamtzahl der Stimmberechtigten, war die Beteiligung an der letzten Gemeindeversammlung sogar ein wenig besser als jene in Balsthal oder in Oensingen. Wenn ich in die Runde schaue und mir vorstelle, dass die meisten hier aus Härkingen sind, dann könnte man eigentlich gleich heute über die neue Turnhalle abstimmen.

War jetzt alles dabei? Zum Nachdenken anregen, ein wenig Patriotismus, etwas Humor? Ah ja, es gibt ja noch einen vierten Punkt, der zu einer guten 1. Augustrede gehört: Sie darf auf keinen Fall zu lang sein. Genau. Darum bin ich jetzt auch schon fertig.