Liebe Festgemeinde, liebe Freundinnen und Freude

Ich will über Gesundheit reden. Über Gesundheit und Arbeit. Der 1. Mai scheint mir die richtige Gelegenheit zu sein, um zu fragen, was eigentlich gesund ist an unserer Art wie wir arbeiten, wie wir arbeiten müssen. Und was vielleicht nicht  immer nur gesund ist. Wenn es nicht gesund ist, sollten wir es auch nicht  bloss schlucken, sondern beim Namen nennen und dagegenhalten.

Es ist nicht wegen Corona, dass ich heute Gesundheit und Arbeit thematisiere. Nein, der Auslöser ist ein anderer. Vor wenigen Wochen konnten wir wieder mal hören und lesen, was wir eigentlich schon lange wissen: Wir Menschen werden beim Arbeiten immer produktiver. Wir leisten pro Arbeitsstunde immer mehr. Zwischen 2010 und 2020 ist die Arbeitsproduktivität um weitere fast zehn Prozent angestiegen. Die Löhne sind in dieser Zeit bekanntlich in den meisten Jobs praktisch gleich geblieben. Und die Arbeitszeit hat auch nicht  abgenommen. Im Gegenteil gibt es etliche Branchen, in denen wieder etwas länger gearbeitet werden muss.

Unter dem Strich heisst das nichts anders als: Wir arbeiten gleich lang wie früher, wenn nicht noch länger, wir verdienen nicht mehr, aber wir sind immer produktiver, beziehungsweise, wir stehen unter Druck, dass wir in der gleichen Zeit immer mehr liefern sollten. Zum Teil machen wir uns diesen Druck selber, zum Teil lastet der Erwartungsdruck auf uns. Das ist nicht gut für die Gesundheit! Ich sage es gleich nochmals, will es derart wichtig ist und von den meisten am liebsten verdrängt wird: Das ist nicht  gut für die Gesundheit!

Die Gewerkschaften fordern, dass jetzt endlich wieder einmal die zusätzliche Produktivität für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgeglichen wird in Form von Reduktion der Arbeitszeit. Ich trage diese Forderung voll und ganz mit. Wenn wir pro Arbeitsstunde ständig mehr liefern müssen, dann brauchen wir auch ab und zu eine zusätzliche Pause, einen kürzeren Arbeitstag, eine kürzere Arbeitswoche. Seit 1990 ist die Produktivität sogar um etwa 40 Prozent angestiegen. Die Schweiz könnte sich eine 35-Stunde-Woche für ein Vollpensum längstens leisten. Ich habe in meinem Bekanntenkreis viele, die teilzeitlich arbeiten, und das nicht unbedingt in erster Linie, will sie andere Arbeiten zu leisten haben – eigene Kinder, Haushalt, Betreuung von Angehörigen – sondern weil ihnen ein Vollpensum einfach zu viel ist. Allerdings, und das ist der springende Punkt: Die Entscheidung, nur 70 oder 80 Prozent zu arbeiten, können vor allem gut Verdienende treffen. Junge Leute am Anfang der Berufskarriere, Leute in den «Abstauber-Berufen», wie ich sie jetzt mal bezeichne: Sie haben die Wahl nicht, will sie auf einen vollen Lohn angewiesen sind.

Es gibt noch ein paar andere Gründe, warum wir Arbeit und Gesundheit wieder einmal genauer unter die Lupe nehmen sollten. Ich gehe auf drei Dinge ein. Erstens aufs Thema Sinnerfüllung, zweitens aufs Thema Nachtarbeit, und drittens aufs Thema Homeoffice.

Stichwort Sinnerfüllung. Menschen, die eine Aufgabe im Leben haben, die ihnen eine hohe Zufriedenheit verschafft; Menschen, denen Anerkennung und Wertschätzung sicher sind, die selber mit Herzblut dabei sind, will sie eben den Sinn in ihrer Tätigkeit erleben: Solche Menschen sind länger gesund. Sie leben länger, sie sind länger agil, auch geistig vif, sie sind kommunikativer, geselliger, und sie werden weniger krank. Das ist weltweit x-fach belegt. Es ist nicht  unbedingt nur die Berufsarbeit, die uns Sinnerfüllung bieten kann, das kann auch ein Ehrenamt oder eine familiäre Aufgabe sein. Aber viele von uns erfahren den Lebenssinn eben schon in der Lohnarbeit. Oder aber sie erfahren ihn dort gerade nicht.

Darum sollten wir genauer darüber nachdenken, welche Arbeiten regelmässig in ihrer Bedeutung unterschätzt werden. «Verkannte Arbeit» hiess vor ein paar Jahren ein Buchtitel. Untertitel: «Dienstleistungsangestellte in der Schweiz». Jawohl, es sind häufig nicht etwa Arbeitende in der produzierenden Industrie, die untendurch müssen. Es sind Branchen wie Reinigung, Abfallbeseitigung, Überwachung, Logistik, Transport, aber auch Verkauf, Onlineverkauf, Gastgewerbe, Hotellerie, Restaurants. Zusammengezählt haben diese Branchen inzwischen sehr viele Angestellte, auch in unserer Region, wenn wir zum Beispiel ans Gäu mit seinen Logistikzentren denken. Menschen in diesen Aufgabenfeldern leisten «verkannte Arbeit». Sie haben ein übermässig grosses Risiko zu erkranken, nicht bis 65 arbeiten zu können – und schon gar nicht noch länger.

Zweites Stichwort: Nachtarbeit. Ich weiss nicht, was ihr für ein Bild vor Augen habt, wenn ihr an Nacht- und Schichtarbeit denkt. Viele Leute haben immer noch das Bild vom Industriearbeiter vor sich, der im Mehrschichtbetrieb auch während der Nacht Metall giesst oder Maschinen bedient. Es gibt diese Aufgaben schon noch, aber sie sind relativ selten. Andere Arbeiten sind in den letzten Jahren mehr und mehr in die Nacht hinein verlegt worden. Unsere Gesellschaft macht die Nacht zum Tag, und das ist nicht nur Party, sondern bedeutet für viele: unregelmässige Arbeitszeiten, Abend- und Nachtarbeit. Die Läden sind länger offen, die Beizen ebenfalls. Der öffentliche Verkehr hat fast nie mehr Pause. Die Polizei muss in der Nacht mehr Präsenz zeigen. Bauarbeiten muss man in der Nacht durchführen. Journalistinnen müssen nicht  nur die Zeitung füllen, sondern auch das Internetportal. Pakete müssen gerüstet und zur Auslieferung parat gemacht werden, und mit dem Online-Handel steigt Nachtarbeit extrem an. Und dann natürlich alle Pflegeberufe, die sind ja zum Glück bei vielen ins Bewusstsein gerückt. Aber alles in allem muss man sagen: Es ist für die Gesundheit ein Risiko, unregelmässig arbeiten zu müssen, je länger je mehr auch am Abend oder zu fast jeder Nachtzeit. Und wenn wir genau hinschauen, sind es wiederum dieselben verkannten, missachteten Berufe, die am meisten betroffen sind.

Noch zu meinem dritten Stichwort: Homeoffice. Das wird ja jetzt überall als neuen Segen gefeiert. Es hat ja auch Vorteile, wenn ich vielleicht einen oder zwei Tage pro Woche von zuhause aus arbeiten kann. Es ist besser für die Umwelt, vielleicht fürs soziale Zusammenleben – jedenfalls wenn man gut aneinander vorbei kommt – und für das Gefühl, seinen Alltag selber bestimmen zu können. Das wäre auch der Gesundheitsvorteil. Allerdings: Dieser Vorteil ist wacklig, manchmal verkehrt er sich ins Gegenteil. Warum? Mich macht es misstrauisch, wenn Kaderleute und Verwaltungsratspräsidenten in den höchsten Tönen von den Chancen des Homeoffice schwärmen. Die grosse Gefahr ist die Entgrenzung. Es ist so verlockend: grenzenlose Verfügbarkeit! Schon piepst das Handy wieder, weil der Chef noch etwas will. Er wird ungeduldig, wenn ich ein paar Stunden nicht antworte. Manchmal gilt auch hier: Ich baue mir diesen Druck selber auf und habe selber das Gefühl, ich müsse jederzeit für fast alles zu haben sein. Das ist nicht gesund!

Wir dürfen jetzt aber auch nicht alles dem einzelnen Menschen anhängen und mit erhobenem Zeigefinger mahnen, er müsse eben auch mal abschalten. Nein, wir haben eine gesellschaftliche Verantwortung. Unser Arbeitsgesetz muss sicherstellen, dass auch in Zeiten von Homeoffice und überall-Internetzugang klare Regeln gelten, wie lange jemand arbeitet, dass es klar definierte Anfangs- und Schlusszeiten braucht, dass es Freitage braucht, und dass Angestellte dies auch durchsetzen können. Ihrer Gesundheit zuliebe.

Liebe Freundinnen und Freunde: Was im Arbeitsgesetz steht, was in euren Arbeitsverträgen steht, wie eure Arbeitsplanung gemacht wird, ob ihr für eure Arbeit nicht nur einen fairen Lohn, sondern auch Wertschätzung bekommt: Das ist für eure Gesundheit mindestens so wichtig wie Früchte und Gemüse essen oder ab und zu joggen. Nein – es ist wichtiger.