23.4.2021 / Felix Wettstein

Ostern ist seit Wochen vorbei, aber die Schweiz eiert weiter herum. Was will der Bundesrat wirklich mit dem institutionellen Rahmenabkommen? Vor lauter Geplänkel, so scheint mir, sind die Inhalte verloren gegangen. Ich versuche sie zu beleuchten. Die Schweiz will drei Gewissheiten zu Themen, die im Entwurf zum Rahmenabkommen nicht ausdrücklich geregelt sind: Sie könnten nach der Unterzeichnung zu Streitigkeiten führen, und die Streitschlichtung könnte «gegen den Willen der Schweiz» (wie immer dieser Wille gelagert ist) ausfallen.

Erstens: Die Schweiz will die Gewissheit, dass sie eigenständige, im Vergleich zu anderen Ländern schärfere Lohnschutzbestimmungen aufrechterhalten darf gegenüber Firmen, deren Mitarbeitende Arbeiten in der Schweiz ausführen. Ich sage dazu: Das macht Sinn und ist sehr wichtig, denn die Löhne sind mit den Lebenshaltungskosten verbunden und darum in der Schweiz in der Regel höher. Unsere Kontrollen sind scharf, und das ist gut so, denn immer mal wieder werden versuchte Umgehungen aufgedeckt. Wenn wir uns umsehen, stellen wir fest: Diverse Länder der EU haben eigenständige Lohnschutzmassnahmen, z.B. Mindestlöhne und Kündigungsschutz: Die Schweiz könnte zum Teil auch von anderen lernen. Es ist also offensichtlich mit dem freien Personenverkehr vereinbar, als Land eigene Regeln zu haben. Offenbar hat in den Verhandlungen mit der EU die Schweizer Seite mögliche Lockerungen des Lohnschutzes ins Spiel gebracht: Das dünkt mich ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Wenn unser Lohnschutz aufgeweicht würde, wäre es eine Einladung, solches in anderen Ländern zu verhandeln – zum Nachteil von Arbeitnehmenden überall in Europa.

Zweitens: Die Schweiz will die Gewissheit, dass sie «staatliche Beihilfen» nach ihrem Gusto gewähren darf. Damit sind alle Arten von Subventionen und Direktzahlungen, von Staatsgarantien (z.B. gegenüber einer Kantonalbank) und von Steuererlassen gemeint. Im EU-Raum sind staatliche Beihilfen im Prinzip untersagt, aber es gibt zahlreiche Ausnahmen. Es gibt zum Beispiel regionale Wirtschaftsför­derung für strukturschwache Regionen, oder es gibt Kulturförderung. Und über solche erlaubten Beihilfen wacht die Europäische Kommission. Sie besteht nur aus EU-Mitgliedern. Darum will die Schweiz weiterhin eigene Regeln haben und auch selber darüber «wachen» dürfen. Ich sage dazu: Das macht Sinn, und das ist meines Wissens EU-seitig gar nicht bestritten. Allerdings finde ich Steuervergünstigungen oder -erlasse (sie sind bei uns kantonal geregelt) grundsätzlich unhaltbar. Es handelt sich um Hinterzimmerabkommen mit dem Ziel, Firmen anzulocken oder am Wegziehen zu hindern, ohne die Möglichkeit für die Parlamente, die Beträge zu budgetieren und die Geschäfte zu überwachen. Steuererlasse sind zudem im Widerspruch zur Verfassung, denn diese besagt, dass jede und jeder gemäss seiner/ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zu besteuern ist. Aber eben, das müssen wir in der Schweiz unabhängig vom Rahmenabkommen bereinigen.

Drittens: Die Schweiz will die Gewissheit, dass sie trotz Personenfreizügigkeit selber bestimmen darf, ab wann sie eine Niederlassungsbewilligung erteilen kann, ab wann bei Zugezogenen die Sozialhilfeberechtigung beginnt und wer warum aus dem Land ausgewiesen werden darf. Damit gerät die Schweiz in Konflikt mit der sogenannten Unionsbürgerrichtlinie (welch sperriges Wort). Völlige Freiheit hat die Schweiz heute nicht, denn schon das 1999 unterzeichnete Personen-Freizügigkeitsabkommen enthält Regelungen. Erst fünf Jahre später ist die Unionsbürgerrichtlinie in Kraft getreten: Sie ist in ein paar Punkten grosszügiger. Wer als Zugezogene*r in den ersten Monaten unfreiwillig arbeitslos wird, kommt schneller zu Sozialhilfe. Weiter geht es schneller, bis jemand eine Niederlassungsbewilligung (Daueraufenthalt) bekommt. Und die Hürden sind höher, damit jemand ausgewiesen werden kann. Ich meine dazu: Es ist völlig verständlich, dass im ganzen Raum, in dem die Personenfreizügigkeit gilt (genau genommen sollte sie Arbeitnehmenden-Freizügigkeit heissen) dieselben Mindestregeln punkto Niederlassung, Wegweisung und Sozialhilfeanspruch gelten. Die 27 EU-Staaten haben sich darauf geeinigt. Die Schweiz kann nicht den Anspruch erheben, dass sie am EU-Binnenmarkt vollständig teilnehmen dürfe, ohne sich an diese Regeln zu halten.

Der Elefant im Raum: Gibt die Schweiz ihre Unabhängigkeit preis?

Skeptiker*innen gegenüber einer geregelten Zusammenarbeit Schweiz-EU wünschen sich noch eine weitere Gewissheit: Sie finden, dass der Europäische Gerichtshof keine Urteile sprechen dürfe, welche die Schweiz betreffen. Sie warnen vor den «fremden Richtern» und setzen dabei gerne auf populistische Stimmungsmache.

Ich meine dazu: Wenn ich mit jemandem einen Vertrag eingehe, dann verzichte ich logischerweise auf ein wenig «Unabhängigkeit», eben weil mir der Vertrag Vorteile bringt (bei einer Heirat ist das nicht anders…). Wenn zwei Parteien miteinander einen Vertrag abschliessen, dann kann das Schiedsgericht, welches im Konfliktfall anzurufen ist, logischerweise nicht allein dem Recht der einen Partei verpflichtet sein. Wir können nicht verlangen, dass allein «Schweizer Recht» für die internationalen Verträge im EU-Binnenmarkt gilt, genauso wenig wie bei anderen internationalen Abkommen. Das wäre anmassend.

Für das Institutionelle Rahmenabkommen Schweiz-EU hat man deshalb einen ausgeklügelten Mechanismus zur Streitbeilegung entwickelt. Weil dieses Rahmabkommen ja den Weg der bilateralen Verträge in die Zukunft führen will, ist es nötig, dass bestehende Abkommen aktualisiert werden können und dass neue dazukommen können. Dabei kann es zu Streit in der Auslegung kommen, und in diesem Fall ist in erster Instanz ein paritätisches Schiedsgericht anzurufen. Wenn dessen Vorschläge zur Einigung nicht fruchten, ist der Europäische Gerichtshof an der Reihe. Sein Urteil muss aber für die Parteien «verhältnismässig» sein. Die Schweiz kann diese Verhältnismässigkeit anfechten, worauf wiederum das paritätische Schiedsgericht am Zug ist. In der Praxis wird es in solchen Fällen nötig sein, eine neue Balance zwischen Geben und Nehmen zu finden. Diese findet man oft mit der zusätzlichen Aufnahme von «Ausgleichsthemen». Die Schweiz könnte der EU zum Beispiel in Steuerfragen entgegenkommen.

Ich komme zum Schluss, dass dieses System wohlüberlegt ist. Es legt die Basis für die künftigen Freizügigkeiten, die gegenseitige Marktteilnahme und – für mich noch wichtiger – es zeugt von geteilter Verantwortung gegenüber Mensch, Umwelt und Zukunft. Als Bürger und Bewohner der wohlhabenden Schweiz will ich nicht bloss Markt und Reisefreiheit, sondern internationale Solidarität und geteilte Verantwortung für nachhaltige Entwicklung.