von Felix Wettstein, Nationalrat Grüne (SO)

Die Erstaugustfeiern sind fast überall abgesagt: Auch in Härkingen über Mittag, auch in Olten am Abend. An diesen beiden Orten hätte ich mich heute zum 1. August an die jeweilige Festgemeinde richten dürfen – in einem Jahr holen wir es nach. Und ich nutze die Gelegenheit, ein paar Gedanken auf diesem Weg öffentlich zu machen.

Wir feiern die Schweiz. Wir rücken ins Zentrum unserer Aufmerksamkeit, was unser Land und unsere Gemeinschaft besonders und einzigartig macht. Aber was ist es eigentlich, das Besondere und Einzigartige? Gibt es das überhaupt noch? Im Juli verreisen bekanntlich viele von uns, dann können wir Vergleiche anstellen. Dieses Jahr sind wir zwar mehrheitlich innerhalb der Schweiz verreist, aber vielleicht hat es zu einem Abstecher über die Grenze hinaus gereicht, wie zum Beispiel für mich diese Woche ins österreichische Montafon, gleich ennet der Grenze, banachbart zum Prättigau.

Wie bei früheren Reisen ins Ausland ist mir auch diesmal aufgefallen: Wenn man an seinem Zielort den Fernseher einschaltet und die lokalen Sender anschaut, dann begegnen einem eigentlich die gleichen Themen wie zu Hause. Vor der Abreise wurde bei uns gerade über Hitzerekorde, über ausgetrocknete Wälder und absterbende Bäume berichtet, und die gleichen Themen bewegen die Leute auch an unserer Feriendestination. In unseren Herkunftsgemeinden wurde eben noch von Verkehrsüberlastungen und Parkplatzsorgen berichtet, oder von der neuen Ladestation für Elektroautos. Und was steht am Ferienort zuoberst auf der Liste der Themen, welche die Leute beschäftigen? Genau: Elektroladestationen, Parkplatznot, Verkehrsüberlastung. Die Corona-Krise habe ich bisher noch gar nicht angesprochen. Hier wird es noch offensichtlicher, dass alle im selben Boot sitzen. Das Virus kennt keine Landesgrenzen, und entsprechend dominiert das Thema zur Zeit überall die Debatten: Tun die Behörden das Richtige, tun sie genug? Oder zuviel? Wo besteht Maskenpflicht, wo nicht, und ist das jetzt konsequent? Wer muss zu einem Test, wer muss bei der Rückreise in Quarantäne? Wer macht in diesem sehr speziellen Jahr bessere Geschäfte als sonst, wer steckt in der Krise? Und wie kann den Betroffenen geholfen werden? Jedes Land, weltweit, treibt momentan solche Fragen um. Bei den Antworten gibt es Nuancen: Im österreichischen Montafon beispielweise gilt 1 Meter Sicherheitsabstand, jedoch Maskenpflicht in den Läden. Ein Zmorgebuffet war im (kleinen) Familienhotel zu unserer Überraschung erlaubt.

Nicht erst seit Corona wird für mich offensichtlich: Die Unterschiede zwischen «Inland» und «Ausland» sind klein, sie sind zunehmend kleiner. Die grossen Herausforderungen, welche sich uns stellen – Klimakrise, Reform der Sozialversicherungen und des Gesundheitswesens, Auswirkungen von Migration, Arbeitskräftemangel, Verlust an Biodiversität – wo immer wir hinschauen oder hinreisen, es sind dieselben. Gibt es da für uns, als Schweizerinnen und Schweizer, überhaupt noch etwas, was wir ganz für uns beanspruchen können, oder ist das alles nur Nostalgie?

Was bleibt an Besonderem? Ist es der Banken- und Finanzplatz Schweiz? Ist es die Neutralität? Mit beidem sind wir nicht die Einzigen. Und wenn ich sehe, wohin unsere Kriegsmaterialindustrie ihre Güter liefern darf; wenn ich sehe, welche Weltkonzerne in der Schweiz ihren Sitz haben und sich andernorts um die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards foutieren dürfen, dann kommen mir schon Zweifel.

«Die direkte Demokratie» höre ich als Antwort: «Darum beneiden uns viele im Ausland». Ja, dieses Argument hat etwas an sich. Wir sind uns gewohnt, dass wir immer mal wieder zu politischen Beschlüssen Ja oder Nein sagen dürfen. Wir haben mit dem Referendum und der Volksinitiative Instrumente zur Hand, von denen immerhin einige von uns regelmässig Gebrauch machen. Entsprechend heikel war aus meiner Sicht während der Corona-Notstandsmassnahmen der Entscheid, diese Volksrechte auszusetzen.

Es ist sicher spannend zu fragen, woher dieses hohe Bewusstsein für direktdemokratische Mitwirkung eigentlich kommt. Ich glaube, dass wir historisch bei den Genossenschaften anknüpfen können. Der Genossenschaftsgedanke war und ist dort besonders wichtig, wo wir knappe Güter nur dank gemeinsamer Regulierung nutzen können, das heisst aus einer Grundhaltung der Solidarität heraus, also nach einem grundsätzlich anderen Prinzip als dasjenige des «reinen» Wettbewerbs.

Ich mache ein Beispiel: Vorletzte Woche waren wir im Wallis. Wir sind mehrmals den Suonen entlang gewandert. Was da vor Jahrhunderten ingenieurtechnisch geleistet wurde ist höchst bemerkenswert. Vor allem aber wird auch heute sofort einsichtig: Ein solches System funktioniert nur dank genossenschaftlicher Solidarität. Wenn einer den anderen buchstäblich das Wasser abgräbt und damit alleine seine Felder bewässert, dann ist er nicht besonders tüchtig, sondern ein Verbrecher.

Selbstverständlich sind wir Schweizerinnen und Schweizer nicht die Einzigen, die derartige genossenschaftlichen Regelungen entwickelt haben. Auch Suonen gibt es nicht nur im Wallis, sondern in vielen Gebirgsgegenden der Welt. Bei uns ist die Wasserversorgung inzwischen längst eine Aufgabe der öffentlichen Hand. Aber der Genossenschaftsgedanke findet moderne Anknüpfungspunkte. Ein Anwendungsfeld ist die Weiterverwertung von Lebensmitteln, anstatt sie als Resten wegzuwerfen. Ein anderes ist die gegenseitige Kinderbetreuung, welche mehrere Familien untereinander organisieren. Ein drittes ist das Teilen von kostbaren Geräten und Instrumenten, die nicht jede und jeder selber besitzen muss. Bekannt geworden ist das Car-Sharing. Das gleiche Grundprinzip können wir auch mit dem Grillofen, der Festbankgarnitur oder dem Rasenmäher anwenden.

Und genau: Auch damit sind wir in der Schweiz weder besonders noch einzigartig. Was also bleibt für uns an Besonderem? Meine Antwort: Es ist das, was überall auf der Welt besonders ist: Das Gefühl von Identität. Hier kenne ich mich aus. Diese Landschaft ist mir vertraut. Hier habe ich selber schon Hand angelegt oder mitbestimmt. Diese Menschen freuen sich, wenn sie mir begegnen, und ich freue mich, dass ich ihnen begegne. Wir tragen uns Sorge. Wir sind einander nicht egal, und die vertraute Umwelt ist uns nicht egal. Das ist das, was wir an einem Nationalfeiertag feiern. Weltweit.