Die Reform der Altersvorsorge steht – abgesehen von der Covid-19-Krise – zuoberst auf dem «Sorgenbarometer» der Schweizer Bevölkerung: Das ergab jedenfalls die Umfrage der Credit Suisse. In den eidgenössischen Räten haben wir zurzeit sowohl zur AHV als auch zur zweite Säule (berufliche Vorsorge BVG) Revisionsvorlagen in der Beratung. Die beiden Revisionen werden getrennt vorangetrieben (19.050 und 20.089). Es dünkt mich im Moment schwierig abzuschätzen, was das Resultat sein wird, ob mehrheitsfähige Vorlagen überhaupt gelingen werden.

Ich gehe darum heute nicht auf den Stand der Beratungen ein, sondern möchte zur AHV-Thematik etwas beleuchten, was meiner Meinung nach in der öffentlichen Diskussion meistens falsch läuft. Das Stichwort heisst «Altersquotient». Damit wird das Verhältnis der Einwohnerinnen und Einwohner zwischen 20 und 64 Jahren zu demjenigen der Menschen im Rentenalter gesetzt. Es heisst dann sinngemäss: «Heute beträgt dieses Verhältnis noch 3,5 zu 1, aber weil die Menschen immer älter werden, wird es in wenigen Jahrzehnten 2 zu 1 sein. Zwei Personen im Erwerbsalter müssen dann eine Person in Rente finanzieren.»

Dazu ist zu sagen: Der Altersquotient ist nicht die entscheidende Grösse für die Finanzierungsbasis der AHV. Darum sind auch die Prognosen der künftigen Finanzbasis anzuzweifeln, wenn behauptet wird, sie entwickle sich im Gleichschritt mit dem Altersquotient. Das muss ich natürlich begründen.

  1. Es wird so argumentiert, als ob alle Menschen zwischen 20 und 64/65-Jahren durchgehend (und vollzeitlich) berufstätig seien. Das trifft aber bei weitem nicht zu. Zur Zeit der Einführung der AHV gingen nur eine Minderheit der Frauen zwischen 20 und 64 einer Lohnarbeit nach. Heute sind zwar die meisten Frauen erwerbstätig, aber nicht wenige würden das Pensum erhöhen (und damit auch die lohnanteiligen Abgaben), wenn es die Bedingungen zulassen würden. Inzwischen zählen Erziehungs-/Betreuungszeiten zwar als anrechenbare Jahre für die AHV – zum Glück – aber Lohnprozente lösen sie logischerweise nicht aus.
  2. Die AHV wird zwar zu einem bedeutenden Teil aus den Lohnabzügen der Erwerbstätigen finanziert (73%, siehe hier), aber eben nicht nur. Weitere 20% steuert der Bund direkt bei, hinzu kommt das «Demografieprozent» der Mehrwertsteuer. Unabhängig vom Alter tragen alle Konsumierenden dazu bei, und natürlich auch alle jene Steuerzahler*innen, die Bundessteuern entrichten. Zu einem kleineren Teil tragen zusätzlich die Raucher*innen und die Geld-Glücksspieler*innen bei, denn von diesen Steuern geht auch ein Teil an die AHV.
  3. Wenn die Kaufkraft anhält oder weiter steigt, nicht zuletzt die Kaufkraft der Menschen im Rentenalter, dann wird der Arbeitsvorrat nicht geringer, sondern eher grösser. Es wird mehr Arbeit, mehr Stellen geben! Wenn nicht genügend junge Leute nachrücken und die Zahl der Arbeitsuchenden tief ist, werden Zugewanderte diese Stellen besetzen. Das mag nicht allen passen, aber es war schon in der Vergangenheit so und wird ähnlich weitergehen. Anders gesagt: Wenn die Zahl der Alten zunimmt, nimmt vermutlich auch jene der 20 und 64-Jährigen zu – nicht immer im Gleichschritt, aber in der längerfristigen Tendenz.

Was also ist massgebend für de Prognose der AHV-Finanzierung, wenn es nicht der Altersquotient ist? Die Hauptquelle der Finanzierung sind wie erwähnt die Lohnabgaben. Angenommen, der heutige Prozentsatz bleibt stabil (Arbeitgeberin und Arbeitnehmer je 5,3 %), dann ist alleine die Entwicklung der Gesamtlohnsumme massgebend.

Die Lebenserwartung steigt, seit es die AHV gibt. Wir hatten zwar die Erhöhung des Frauenrentenalters (2001 und 2004 in zwei Schritten von 62 auf 64), aber abgesehen von dieser Korrektur steigt die Anzahl Personen im Rentenalter seit Jahrzehnten ziemlich gleichmässig. Jedoch – und das ist der entscheidende Punkt – die Gesamtlohnsumme hat sich in dieser Zeit so entwickelt, dass die längere Lebenserwartung jederzeit finanziert werden konnte! Mehr noch: Die AHV konnte Milliarden an Reserven bilden. In den letzten 20 Jahren gab es drei Jahre, in denen die AHV weniger einnahm als sie an Renten auszahlen musste: 2008, 2015 und 2018. In allen anderen Jahren hat sie im Plus abgeschnitten. Auch 2020 hat sie bei einem Umsatz von ca. 47 Milliarden mit einem positiven Betriebsergebnis von über 1,9 Milliarden Franken abgeschlossen (Wer mehr wissen will: hier klicken).

Was sind die Erklärungen zur Entwicklung der Gesamtlohnsumme? Erstens ist die Erwerbsbeteiligung gestiegen, insbesondere jene der Frauen, und sie kann noch weiter steigen. Noch nie war ein so grosser Teil der Bevölkerung erwerbstätig wie heute – obwohl es auch mehr Menschen im Rentenalter gibt! Zweiter wichtiger Effekt: In vielen Branchen steigen die Löhne, und es gibt tendenziell eine Verschiebung innerhalb der Erwerbsarbeit: Weg von schlecht entlöhnten, hin zu besser entlöhnten Stellen. Anders gesagt: Selbst wenn die Anzahl Beschäftigter nicht steigt, steigt die Summe der Löhne und damit der lohnfinanzierten AHV-Beiträge. Und wie bereits erwähnt: Wenn der Arbeitsvorrat weiter wächst (was u.a. eine Folge davon ist, dass auch die wachsende Zahl der Rentnerinnen und Rentner bezahlte Dienstleistungen nachfragen!), dann steigt auch die Anzahl Beschäftigter weiter: Dank Einstellung von bisher Erwerbslosen, Aufstockung von Teilzeitstellen oder Zuzug von Arbeitskräften aus dem Ausland.

Ich will nicht falsch verstanden werden: Es ist richtig und wichtig, dass wir mittelfristig die AHV besser finanzieren, denn irgendwann sind die bisherigen Steigerungsfaktoren ausgereizt. Die erste Säule der Altersvorsorge muss breiter werden, denn heute erfüllt sie den Verfassungsauftrag nicht, die minimale Existenz zu sichern! Es gibt verschiedene Vorschläge für zusätzliche Finanzierungen: Es muss nicht die Erhöhung des Rentenalters sein. Im Gegenteil scheint mir die bessere Flexibilisierung des Übertrittsalters viel entscheidender zu sein. Vor allem aber ist mir ein Anliegen, dass die unseligen Ableitungen aus dem Altersquotient und die Schreckensszenarien ein Ende haben. Die AHV ist gut drauf.