Etwa seit Jahresbeginn dominiert das Thema Impfen die unendliche Geschichte der Corona-Pandemie. Die Welt und die Schweiz ist scheinbar zweigeteilt: Hier die Impfbefürworter*innen, voller Hoffnung und Enthusiasmus, dass nun alles ganz schnell vorbei sein wird. Dort die Impfgegner*innen, die sich nicht impfen lassen wollen, die die Impfung als nutzlos oder gefährlich hinstellen und die sich vor allem vom Staat nichts vorschreiben lassen wollen. Darum haben sie ja das Referendum gegen das Covid-19-Gesetz ergriffen. Ich frage mich: Warum gibt es kaum öffentlich hörbare Positionen dazwischen?

Viele, die sich nach der Impfung gesehnt haben, sind inzwischen frustriert, zum Teil auch wütend auf den unfähigen Staat. Doch sie prügeln den Falschen. Ihre Sehnsucht und Hoffnung waren von Anfang an unrealistisch, naiv. Klar, wir alle sehnen uns danach, dass unser Leben möglichst bald wieder «normal» wird. Die Naivität liegt aber darin zu glauben, allein die Impfung werde es richten, und das schaffe sie erst noch innert weniger Wochen. Ich habe schon vor der ersten Zulassung im privaten Kreis immer wieder vor der Seligsprechung der kommenden Impfung gewarnt. Dabei bewegte ich mich jedes Mal auf dünnem Eis, denn man wird sofort verdächtigt, Impfgegner zu sein. Das bin ich aber nicht. Ich versuche bloss, die Zusammenhänge, Chancen und Grenzen des Impfens nüchtern zu betrachten.

Es ist überraschend schnell gegangen, schneller als die Prognosen im letzten Herbst, bis die erste Person geimpft werden konnte – noch im alten Jahr. Aber wie geht es weiter? Erstens ist klar, dass die Produktion eines Impfstoffes in grossen Mengen Zeit braucht. Wir brauchen die Impfung weltweit, zwei Dosen für 7.8 Milliarden Menschen. Auch wenn sich nicht alle impfen lassen wollen, sondern vielleicht 5-6 Milliarden, dann sind das eben 10-12 Milliarden Dosen. Selbst wenn weltweit viele Firmen produzieren, dauert die Produktion und der Vertrieb Monate. Zweitens: Die Kapazitäten für die Verabreichung der Impfung sind nirgendwo grenzenlos. Das ist nicht nur eine Frage der Kosten: Es gibt schnell auch organisatorische Grenzen. Impfzentren brauchen Platz und viel Personal. Drittens: Wir wissen noch nicht, wir können es noch nicht wissen, wie lange der Impfschutz anhält. Sind es einige Wochen, mehrere Monate, ein ganzes Jahr? Ziemlich sicher nicht das ganze restliche Leben. Viertens: Impfungen haben einen Wirkungsgrad. Zweimal impfen steigert den Wirkungsgrad. Aber keine Impfung kommt auf 100 Prozent. Es wird immer Personen geben, bei denen die Impfung nicht «anschlägt», die also trotzdem erkranken können. Bisher scheint der Wirkungsgrad der meisten Präparate hoch zu sein, und die möglichen belastenden Nebenwirkungen sind offenbar gering. Das ist erfreulich und nicht selbstverständlich. Es gibt immer Menschen, die mit heftigen Nebenwirkungen auf Impfungen reagieren. Es gibt auch solche, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen dürfen. Fünftens: Wovor schützt die Impfung? Erste Auswertungen zeigen, dass die Atemwege und die Lunge tatsächlich gut geschützt sind; das Virus kann sich nicht einnisten. Im Schleimhaut- und Rachenbereich kann es sich aber dennoch ansiedeln. Der betroffene Mensch wird nicht krank, aber vielleicht bleibt er ansteckend. Darum wird jetzt nach Sprays geforscht, die ergänzend zur Impfung angewandt werden müssten. Sechstens die inzwischen berühmten Mutationen des Virus. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Viren mutieren. Das entspricht ihrer Natur. Wird der Impfstoff genügend breit wirken können, so dass er auch die britische und südafrikanische Mutante bei den meisten Menschen unschädlich macht? Bisher scheint es so zu sein. Wann wird die erste Mutation auftauchen, die der Impfung trotzt?

Damit ich richtig verstanden werde: Ich will nicht Angst schüren oder den Teufel an die Wand malen. Aber ich stimme nicht in den Chor jener ein, die jetzt ausrufen: «Das geht viel zu langsam, der Bundesrat hat versagt», oder die Kantone machen alles falsch, oder Frau von der Leyen und die EU, oder die Pharmafirmen. Wenn jemand Kritik verdient, dann jene, die eine überschwängliche Hoffnung verbreitet haben.

«Ja aber, wieso schafft es Israel?» höre ich als Einwand. Es stimmt, das katastrophenerprobte Israel hat sich offenbar generalstabs­mässig organisiert und setzt sicher sehr viel Geld ein. Das Land ist aber die weltweite Ausnahme (und hat zur Zeit gleichwohl eine sehr hohe Ansteckungs- und Todesrate): Alle anderen «entwickelten» Länder schlagen sich plus/minus mit ähnlichen Fragen um wie wir uns in der Schweiz. Im Wettrennen um die Impfmengen haben wieder einmal jene Länder das Nachsehen, deren Bevölkerung auch sonst nie auf der Sonnseite des Lebens steht.

Der Schweizer Filmemacher Markus Imhoof, der heuer 80 wird, hat es im Interview mit CH-Media vom 28. Januar treffend beschrieben: Er vergleicht die aktuelle Lage mit einem Swimmingpool: «Was mit der Pandemiebekämpfung weltweit veranstaltet wird, gleicht der Erlaubnis des Hineinpinkelns am einen Ende des Pool und dem Pinkelverbot am anderen Ende. Dabei ist überall dasselbe Wasser. In der Pandemie befindet sich die ganze Welt im selben Bassin. Ein weltweites Problem verschwindet nicht damit, dass wir uns in Europa schneller impfen können und Ländern in Afrika den Impfstoff vorenthalten.»

Einleitend habe ich angesprochen, dass es beim Thema Impfen erstaunlich wenig Zwischentöne gäbe. Abschliessend möchte ich auf zwei löbliche Ausnahmen hinweisen.

Die Online-Zeitung «Republik» hat in ihrer Ausgabe vom 26. Januar 2021 den umfassenden, äussert lesenswerten Artikel publiziert: «Die Impfung ist da. Sie haben noch Fragen? Die hatten wir auch.» (https://www.republik.ch/2021/01/26/die-impfung-ist-da-sie-haben-noch-fragen-die-hatten-wir-auch)

Die Zeitschrift «Krankenpflege», herausgegeben vom Berufsverband der Pflegefachkräfte SBK, publiziert in ihrer aktuellen Nummer (2/2021) den Artikel «Gegen Covid-19 impfen oder nicht – fachlich informiert entscheiden.» Er geht sehr differenziert und empirisch abgestützt darauf ein, welche Faktoren den Impfentscheid und das Impfverhalten beeinflussen: https://www.sbk.ch/publikationen/zeitschrift-krankenpflege/aktuelle-ausgabe. Und damit auch jetzt niemand falschen Schlüsse zieht (das «Bashing» gegenüber Pflege- und Medizinalpersonen, welche angeblich die Impfung an sich selbst verweigern würden, finde ich völlig deplatziert): Der SBK stellt sich voll und ganz hinter die Impfempfehlungen und die Impfstrategie des Bundes. Dasselbe gilt übrigens auch für die FMH mit ihrer neuen Präsidentin und früheren GRÜNEN-Nationalrätin Yvonne Gilli (siehe Medienmitteilung vom 13.1.21: https://www.fmh.ch/_service/aktuelles.cfm).