
Das Asylwesen gibt Anlass zur Sorge
Was gehört zu den wichtigsten Herausforderungen für die Politik in der Schweiz? Oft bekomme ich als Antwort auf diese Frage zu hören: «das Asylwesen» oder sogar «der Asylmissbrauch». Immer dann, wenn ein Verbrechen bekannt wird, das ein Asylsuchender (fast immer Männer) oder ein Flüchtling begangen hat, wird der Vorwurf erhoben, die Schweiz hätte die Asylpolitik nicht im Griff. Oft beschränkt sich der Unmut nicht auf unser Land, vielmehr steht schnell der ganze europäische Kontinent – jedenfalls sein westlicher und nördlicher Teil – unter Verdacht, ein gravierendes Problem nicht lösen zu wollen oder nicht lösen zu können.
Jene, die beklagen, dass wir ein Problem mit dem Asylwesen haben, suchen die Antworten oft in einer besseren Grenzkontrolle. Selten ausgesprochen, gehen die Hoffnungen dahin, dass Menschen aus bestimmten Herkunftsregionen der Welt nie den Fuss auf den Boden unseres Landes setzen dürften. Es sind nicht immer dieselben Herkunftsregionen. Aktuell dürften Syrien, Afghanistan, Libanon, die Maghreb-Staaten und ganz Schwarzafrika gemeint sein. Vor ein paar Jahrzahnten waren es Indochina, später Sri Lanka (die Tamilen), dann (als europäische Region) der Kosovo. Bei uns bisher nicht «unter Verdacht» standen Menschen aus Südamerika: In den USA sieht es anders aus.
Ist die Asylgesetzgebung ungenügend?
Wer der Auffassung ist, dass die Schweiz in der Asylpolitik ein Problem habe und dass es zu viele «illegale» Asylsuchende gäbe, hört den nachfolgenden Satz nicht gern:
Das Recht auf ein faires Asylverfahren ist ein universelles Menschenrecht. Es stützt sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention und das Zusatzprotokoll von 1967.
In der Schweiz und im übrigen Europa (nicht nur EU!) muss das Asylrecht und das Asylverfahren im Einklang mit der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte stehen. (Quelle für diesen und die nächsten beiden Absätze: https://www.fluechtlingshilfe.ch/)
Die schweizerische Bundesverfassung enthält das Grundrecht von ausländischen Personen, bei drohender Verfolgung, Folter oder unmenschlicher Behandlung nicht zurückgewiesen zu werden (Art. 25 Abs. 2 und 3). Weiter gewährt unsere Verfassung den Schutz der Menschenwürde (Art. 7), das Recht auf Hilfe in Notlagen (Nothilfe, Art. 12), das Recht auf Ehe und Familie (Art. 14) sowie weitere Grundrechte, zum Beispiel die Kinderrechtskonvention. Auch garantiert die Verfassung einen Anspruch auf ein faires Verfahren und den Zugang zu einem Gericht (Art. 29-30), und enthält Garantien für den Freiheitsentzug (Art. 31).
Jeder Mensch weltweit hat also das Recht, ein anderes Land um Asyl zu ersuchen. In der Schweiz kann er mündlich oder schriftlich ein Asylgesuch stellen, worauf das geregelte Asylverfahren durchlaufen wird. «Illegale» Asylsuchende gibt es so gesehen nicht. Wir sprechen von illegitimen Asylgesuchen, wenn offensichtlich keine Aussicht auf Anerkennung besteht. Diese Bewertung ist aber erst nach dem Asylverfahren möglich.
Die schweizerische Asylgesetzgebung wurde in den letzten dreissig Jahren mehrfach revidiert und dabei (im Rahmen dessen, was die Verfassung zulässt) jedes Mal verschärft. Seit 2013 ist das Botschaftsasyl nicht mehr zulässig (zuvor, als es erlaubt war, mussten Schutzsuchende nicht zuerst eine teure und gefährliche Reise antreten). Das Asylgesuch kann heute nur an der Grenze, bei der Flughafen-Grenzkontrolle oder in einem Bundesasylzentrum gestellt werden. Ebenfalls seit 2013 ist Desertion (Kriegsdienstverweigerung) kein Grund für eine Asylanerkennung mehr.
Ist der Vollzug der Asylgesetzgebung ungenügend?
Wer mit der aktuellen Asylpolitik unzufrieden ist und im Asylwesen eine der dringendsten politischen Aufgaben sieht, bestreitet meistens nicht, was die Genfer Flüchtlingskonvention, die Bundesverfassung und die daraus abgeleitete Gesetzgebung vorsieht. Verbreitet ist jedoch das Urteil, die Schweiz würde das Gesetz nicht oder nicht genügend gut umsetzen.
Dieser Vorwurf bezieht sich auf mehrere Ebenen: a) die Schweiz würde die Grenzen zu wenig kontrollieren (wenn sie es täte, kämen viele gar nicht über unsere Grenze, könnten also kein Gesuch stellen); b) die Behörden würden zu oft mit Lügengeschichten über den Tisch gezogen, sie würden Asyl oder vorläufige Aufnahme gewähren, obwohl die Schutzbedürftigkeit nicht gegeben sei; c) die Verfahren würden zu lange dauern; d) nach einem ablehnenden Entscheid würde zu wenig getan, um die Leute sofort «zurückzuschaffen» und daran zu hindern, dass sie untertauchen, aber bleiben.
Zu a) Bei konsequenten Grenzkontrollen würden vermutlich auch viele jener Menschen abgehalten, welche einen berechtigten Anspruch auf Schutz hätten. Vor allem bräuchte die Schweiz sehr viel zusätzliches Personal für die Grenzbewachung. Die Forderung nach geschlossenen Grenzen erheben i.d.R. dieselben, welche monieren, der Bund hätte zu viel Personal. 31% der Bundesangestellten arbeiten heute für das VBS. Am meisten Zuwachs hatten in den letzten Jahren die Armee und der Geheimdienst (NDB).
Zu b) und c): Mit der jüngsten Gesetzesrevision, 2019 in Kraft getreten, wurde eingeführt, dass alle Asylsuchenden zunächst einem von sechs Bundesasylzentren zugewiesen werden. Dort kommt es zu beschleunigten Verfahren. Es dauert in aller Regel maximal 140 Tage. Die Ansprüche auf ein schnelles Verfahren einerseits, eine gründliche Prüfung (zur Vermeidung von Fehlurteilen) andererseits stehen in einem Spannungsfeld.
Zu d) ein paar Daten (Quelle: SEM, Asylstatistik) :
- 2023 wurden in der Schweiz gut 30’000 Asylgesuche gestellt; 2022 waren es rund 24’500 gewesen.
- 2023 wurden rund 26700 Gesuche erstinstanzlich erledigt; 9000 mehr als im Vorjahr.
- Knapp 6000 Personen erhielten 2023 Asyl, im Jahr davor rund 4800 Personen. Weiter erhielten 2023 rund 7400 Personen die vorläufige Aufnahme gewährt (Vorjahr 6700).
- Zusammen ergibt sich die Schutzquote von 54,4% (Vorjahr 59,0%). Die übrigen dürfen nicht bleiben.
- 2023 sind 13’000 Personen mit negativem Bescheid selbständig und kontrolliert ausgereist. Knapp 12’000 waren unkontrollierte Abreisen, gut 3600 waren Rückführungen (in Heimatstaat, Drittstaat oder anderen Dublin-Staat).
Die Fakten sprechen (lassen)
Ausführliche Daten sind im jährlichen „Monitoring Asylsystem“ zu finden. Es belegt u.a.: Im internationalen Vergleich hat die Schweiz eine hohe Ausreise- und Rückführquote. In den letzten zwei Jahren ist die Schweiz vermehrt nicht mehr Zielland der Asylsuchenden gewesen, sondern Transitland.
2024 hat die Zahl der Asylgesuche deutlich abgenommen, vor allem in der zweiten Jahreshälfte. Es kamen noch rund 19’900 Asylsuchende neu in die Schweiz (provisorische Auswertungen; vgl. Medienmitteilung vom 31.1.2025). Gesuche wurden 27’700 gestellt: Hier sind auch die sogenannten «Sekundärgesuche» dabei. Das sind insbesondere Geburten (hier geborene Kinder von Asylsuchenden) und Familiennachzüge.
Für das Jahr 2025 rechnet das SEM mit einem weiteren Rückgang um rund 4000 Gesuche oder knapp 15% weniger als im Vorjahr. Es konnte im Jahr 2024 die Zahl der pendenten Gesuche von rund 16’000 auf 12’000 reduzieren. Dieser Pendenzenabbau dürfte sich fortsetzen.
Bereits im Oktober hatte das SEM auf die sinkenden Zahlen reagiert und mehrere temporäre Bundesasylzentren geschlossen (Medienmitteilung vom 22.10.2024). In der Folge hat das Parlament in der Wintersession beim Budget die prognostizierten Ausgaben deutlich gekürzt: Kürzung um 85 Mio. bei den Bundesasylzentren, um 100 Mio. bei der Asylsozialhilfe, d.h. weniger Transferzahlungen an die Kantone.
Meine Wahrnehmung (FW): Jene politischen Akteure, welche aus der «Asylfrage» politisch Kapital schlagen wollen, sind aktuell nicht daran interessiert, die Datenlage zur Kenntnis zu nehmen und genau darzustellen.
Ja aber – die 10-Millionen-Schweiz!
Die Bevölkerung der Schweiz wächst. Sie wächst aus verschiedenen Gründen. Das Asylwesen hat damit praktisch nichts zu tun!
Leider schaffen es populistisch argumentierende Kreise und die ihnen an den Lippen hängenden Medien laufend, die Dinge zu vermischen und Zuwanderung mit Asyl gleichzusetzen. Herausforderungen, welche eine rasch wachsende Bevölkerung zweifellos mit sich bringen – Wohnungsknappheit, Verkehrsengpässe, Siedlungsdruck, Schulraumbedarf, Fachkräftemangel im Dienstleistungssektor usw. – werden dann gerne mit dem «Asylproblem» verquickt. Die Asylsuchenden werden zu Sündenböcken. Die unberechtigterweise als «illegale» Flüchtlinge (siehe oben) bezeichneten Menschen werden zur Ursache der Wachstumsprobleme erklärt.
Die Schweiz wächst. Aber sie wächst aus ganz anderen Gründen.
- Die Lebenserwartung der Schweiz nimmt zu. Das werten wir alle positiv. Sie nimmt auch aktuell innert rund 10 Jahren um ein Jahr zu (BFS, Lebenserwartung). In den Jahren zwischen 1980 und 2010 konnten die Männer ihre durchschnittliche Lebenserwartung um 8 Jahre steigern, die Frauen um 6 Jahre. Alleine dieser Effekt lässt die CH-Bevölkerung jährlich um rund 20’000 Personen anwachsen.
- Zuwanderung zu Ausbildungszwecken: 2023 sind 18’793 Personen zwecks Aus- und Weiterbildung in die Schweiz eingewandert (Quelle: SEM, Jahresstatistik Zuwanderung 2023). Zum Vergleich: Asylanerkennung und vorläufige Aufnahme umfassten zusammen 13’400 Personen.
- Zuwanderung zu Arbeitszwecken: 2023 war in der Tat ein Rekordjahr. 97’801 Personen wanderten zwecks Erwerbstätigkeit in die Schweiz ein. Rund 95% von ihnen stammen aus dem EU/EFTA-Raum (Quelle: dito). Sie alle hatten den Arbeitsvertrag bereits in der Tasche. Sie werden dringend gebraucht.
- Zuwanderung wegen Familienzusammenführungen: Es ist der zweitwichtigste Grund der Einwanderung: 46’281 Personen gehören in diese Kategorie. Sie ziehen zu einem Familienangehörigen, der bereits legal in der Schweiz lebt. Knapp 7’000 ziehen zu einem Schweizer, einer Schweizerin (meistens als Ehepartner). Unter jenen rund 39’300 Personen, die zu einer Ausländerin, einem Ausländer ziehen, sind etwas mehr als die Hälfte Kinder, etwas weniger als die Hälfte sind Ehepartner.
- Für die Migrationsbilanz müssen natürlich jene subtrahiert werden, die im gleichen Zeitraum aus der Schweiz ausgewandert Es waren rund 124’000, davon 93’900 mit ausländischem Pass.
Alleine die 20’000 zugezogenen Kinder, welche 2023 dank Familienzusammenführung in die Schweiz kamen, machen deutlich mehr aus als die Nettozahl aller Asylsuchenden (Neugesuche minus Ausgereiste/Rückgeführte).
Unter den Asylgesuchen waren – nota bene – 41% Kinder. Selbst wenn man die «Sekundärgesuche» der hier geborenen Kinder von Asylsuchenden abzählt, kommt man noch auf rund 33%. Quelle: Alliance Enfance 2024.
Fazit – welches politische Handeln ist notwendig ?
Die erste wichtige Schlussfolgerung lautet meines Erachtens: Herunterkühlen!
Weltweit sind Millionen Menschen auf der Flucht. Ein kleiner Teil gelangt nach Europa, von ihnen etwa 2,5 Prozent in die Schweiz. Das sind immer noch mehrere Tausend pro Jahr, und oft sind tragische Schicksale dahinter.
Die Asylgesetzgebung der Schweiz ist streng. Die Behörden sind gefordert, das Gleichgewicht zwischen einem schnellen und einem fairen Verfahren zu finden. Die Entwicklungen seit etwa 2022 zeigen, dass ihnen das ganz gut gelingt.
Weitere Massnahmen sind nötig in bilateralen Bemühungen mit Staaten, aus denen Menschen zu uns ohne oder mit geringer Aussicht auf Anerkennung zuwandern. Sie müssen im eigenen Land Perspektiven haben.
Die zweite wichtige Schlussfolgerung lautet: Flucht bzw. Asyl sind eine vollkommen andere «Geschichte» als die Arbeitsimmigration (und Ausbildungsimmigration). Die Auslöser und Motive der beiden Migrationsbewegungen sind vollkommen verschieden.
Für beides ist heute das Staatssekretariat für Migration SEM zuständig. Es müsste deutlicher in zwei Divisionen operieren.
Leider hatte ich bei der Beratung der Legislaturplanung 2023-2027 keine Mehrheiten erreicht: Ich hatte eine Aufteilung in zwei verschiedene Legislaturziele beantragt, eines für das politische Handlungsfeld der Arbeitsimmigration, ein anderes für Flucht und Asyl.