Stromversorgung: Erinnerungslücken vermeiden
«Drohende Stromlücke» heisst das politische Schlagwort der ersten Wochen des laufenden Jahres. Kaum jemand erinnert daran, dass diese drohende Lücke seit 50 Jahren beschworen wird, und dass die Schweiz in dieser ganzen Zeit Stromüberschüsse produziert hat. Vielstimmig klingt es zur Zeit von rechts: «Wir wollen neue Kernkraftwerke – keine Technologieverbote!» oder «Wir schaffen die Transformation nicht ohne Gaskraftwerke». Solche Forderungen bewirken vor allem, dass der dringend notwendige Ausbau der erneuerbaren Energien – allen voran Photovoltaik – gebremst und schlechtgeredet wird. Sie bewirken zudem, dass die Aufmerksamkeit für bessere Energieeffizienz verloren geht. Kurz gesagt: Sie sind Energieverschwendung.
Ich erinnere mich gut: Die schweizerische Elektrizitätsbranche plante zu Beginn der 1970-er Jahre 10 Atomkraftwerke. Wäre es nach diesen Plänen gegangen, würden längst auch in La Plaine (GE), Graben (BE), Inwil (LU) und Rüthi (SG) AKW’s stehen. Ihr Kühlwasser würde die vorbeifliessenden Flüsse aufheizen, ihre abgebrannten Brennstäbe würden in Würenlingen (AG) ein noch grösseres Zwischenlager füllen, da weit und breit kein Endlager in Sicht ist. Der erfolgreiche Widerstand gegen den Baubeginn in Kaiseraugst AG (vor den Toren Basels) im April 1975 hat dann aber dazu geführt, dass auch die anderen Baupläne begraben wurden.
Schon die Ausbaupläne der 70-er Jahre waren von schrillen Warnrufen begleitet: Es droht uns eine Stromlücke! Ebenfalls schon damals hat die Schweiz rund 20 Prozent mehr Strom produziert als sie im Inland absetzen konnte. Zwar hat es auch damals saisonale Schwankungen gegeben: Im Winter brauchte es meistens einen Anteil Import. Aber im Sommer und über die nachgefragte Mittagszeit konnte die Schweiz umso lukrativer exportieren. Unter dem Strich hat sie mit dem Stromhandel jahrzehntelang sehr viel verdient.
Um das Jahr 2008 herum war der verheerende Reaktorunfall von Tschernobyl (1986), als u.a. in der Schweiz die Spielplatz-Sandkästen und die Pilze im Wald radioaktiv verseucht waren, nur noch eine ferne Erinnerung. Nun kriegten die Pläne erneut Aufwind. Die drei Grossen der Branche, AXPO, Alpiq und BKW, wollten je ein neues Werk, am liebsten gleich neben einem ihrer bestehenden, und natürlich noch viel powervoller. Sie reichten entsprechende Rahmenbewilligungsgesuche ein. Die Begründung: «Es droht uns eine Strommangellage!» Der Bundesrat beschied: Es gibt nur zwei; rauft euch zusammen!
«Wer auf Kernkraft setzt, handelt verantwortungslos»
Dieser Titel stand über einer Kolumne in der Zeitung «Sonntag» vom 29. Juni 2008. Autor dieser Kolumne war nicht etwa eine linksgrüne Aktivistin, sondern der damalige (leider früh verstorbene) FDP-Nationalrat Peter Malama aus Basel. Er sprach das Energieverschwendungsproblem an. Als Direktor des Gewerbeverbandes argumentierte er durchaus als Interessenvertreter: Die Zukunft heisse Verbesserungen der Gebäudetechnik, der Produktionsprozesse, des entschlossenen Ausbaus aller erneuerbaren Energien – nicht zuletzt, weil dies viel ökonomischer sei.
Im Februar 2011 tönte es dann wieder anders. Die Mittellandzeitung startete eine sechsteilige Serie zur AKW-Debatte mit dem Titel «Ab 2018 öffnet sich die Stromlücke». Schon damals wurde in vielen Ländern um die Schweiz herum die Nutzung von Sonne und Wind in grossem Stil und erfolgreich vorangetrieben. Ihre Entstehungskosten sanken unter jene des Atomstroms. Bei uns war der Zubau harzig, es wurde um zwei neue AKW’s gefeilscht.
Doch dann kam der 11. März 2011 mit der Katastrophe von Fukushima, in Japan, diesem technologisch perfekten Land. Vier Tage später klangen die Schlagzeilen anders: «Atom-Renaissance in Europa ist vor dem Ende» (Tages-Anzeiger, 15.3.2011), «Wie die Schweiz Atomenergie ersetzen könnte» (Der Sonntag, 20.3.2011). Es war in der Tat der Wendepunkt für die Schweiz, als Doris Leuthard verkündete: «Wir steigen aus der Kernkraft aus». Es war jene Zeit, als vier von sieben Mitgliedern des Bundesrats weiblich waren. Und ein anderer Titel aus jener Zeit löst bei mir heute ein sanftes Schmunzeln aus: Marcel Hänggi, Journalist und Buchautor, fragte im Tages-Anzeiger vom 5. April 2011: «Wäre es so schlimm, wenn wir uns weniger oft waschen würden?» Untertitel: Ohne AKW hätten wir weniger Strom. Aber nicht unbedingt weniger Lebensqualität.
Und nochmals einige Monate später, am 27.8.2011, war denn die Zeit reif für ein weiteres Eingeständnis in den az-Medien: «Stromkonzerne stehen vor Schrumpfkur. Alpiq, Axpo und Co. kranken am Franken, an Überkapazitäten und Investitionsunsicherheit». Dieses Stichwort war neu: «Überkapazitäten». Wir haben nicht zu wenig Strom, sondern zu viel! Die dezentralen, kleinen und zunehmend intelligenteren Produktionsanlagen, die vor allem die sonnigen Mittagsstunden und die windigen Nachtstunden nutzen, machten den grossen Energiekonzernen das Leben zunehmend schwerer.
Und heute? Schnelle, erneuerbare und intelligente Lösungen stehen bereit
Am 2. Februar 2022 hat Bundesrätin Simonetta Sommaruga die Reformpläne des Energiegesetzes vorgestellt. Was den Strom betrifft, ist die Botschaft klar: Vorwärts machen mit dem Solarausbau, denn das Potenzial ist noch riesig. Bei Wind- und Wasserkraft müssen die Verfahren beschleunigt werden, ohne dass der Landschaftsschutz missachtet wird (dass beides zusammen geht, zeigte im letzten Dezember der „Runde Tisch Wasserkraft“). Der Bundesrat schlägt nun vor, dass Solaranlagen bei Neubauten verpflichtend sein sollen. Ich meine, das genügt nicht: Auch bei Sanierungen, vor allem bei grösseren, sowie überall auf Dächern und wenn möglich an Fassaden von öffentlichen Gebäuden – auch auf jenen der bundesnahen Betriebe – muss Solarnutzung zwingender Bestandteil sein. Die Geschäftsstelle von swissolar hat soeben das 11-Punkte-Programm der Solarwirtschaft 2022 vorgestellt. Es weist den Weg. Wichtig dünkt mich zum Beispiel Punkt 9: «Lokale Energiegemeinschaften»: Zusammenschlüsse zum Eigenverbrauch müssten lokal gefördert werden. Es gibt inzwischen kluge, «smarte» technische Lösungen, dank derer der überschüssige Solarstrom zu den Spitzen-Sonnenzeiten gezielt für Speicherung oder für neue Anwendungen (z.B. Produktion synthetischer Treibstoffe) eingesetzt wird.
Es stimmt übrigens nicht, dass die vielbeschworene drohende Stromlücke die Winterzeit betreffe: Nicht im November bis Januar (Monate mit der geringsten Sonnenscheindauer) wird es mit der Inlandproduktion knapp, sondern zwischen Ende Februar und Mitte April! Dann sind, je nach Witterungsverlauf, in gewissen Jahren die Stauseen geleert. Aber dann scheint auch die Sonne wieder bereits tüchtig. Solar-Zubau ist darum – in Ergänzung zur Wasserkraft mit den Speicherseen – auch die richtige Antwort auf saisonale Schwankungen.
Vor allem aber: Strom wird immer noch unnötig verschwendet. Wir sollten viel mehr Energie darauf verwenden, dies zu stoppen. Wir müssen stromfressende Prozesse identifizieren, baldmöglichst durch effizientere Anlagen ersetzen, ansonsten immer dann drosseln oder temporär abstellen, wenn der Strom gerade andernorts gebraucht wird. Wir müssen Elektroheizungen endlich ausmustern. Wir können nachts die Lichter löschen. Und wenn wir fossile Energie durch elektrische ersetzen, z.B. mit Wärmepumpen oder Elektroautos: Ein besser isoliertes Gebäude braucht insgesamt weniger Heizenergie; ein leichteres, kleineres Fahrzeug braucht insgesamt weniger Antriebsenergie. Wir sind «smart»!