Neujahrsbrief 2015: langsamer wachsen
Gedanken zum Jahreswechsel
Liebe Weggefährtinnen und Weggefährten
Liebe Freundinnen und Freunde
Jahreswechsel sind Anlässe, darüber nachzudenken, wie wir unterwegs sind und wohin die Reise gehen soll. 2014 war ein Jahr, das bei mir zwiespältige Erinnerungen zurücklässt. Wenn ich mich in der Gemeinde oder im Kanton herumhöre, dann heisst der Tenor „Raum für Wachstum“. Alle wollen bedeutender und „attraktiver“ werden. Alle wollen mehr Einwohnerinnen und Einwohner, natürlich möglichst wohlhabende, mehr Wohnungen, mehr Arbeitsplätze. Wir wollen noch mehr bauen dürfen, wir wollen grosszügige Sportanlagen, Energie jederzeit und überall, vorteilhafte Wechselkurse, den vollständigen Ladenmix, längere Öffnungszeiten, 6-spurige Strassen und den Viertelstundentakt. Und das alles möglichst gratis. Und national? Eigentlich wollen wir dort dasselbe, haben Erfolg damit – und beklagen uns darüber.
Volksentscheide, auch knappste, sind selbstverständlich zu respektieren. Gleichwohl will ich weiterhin den Mut aufbringen, klipp und klar zu sagen: Der Mehrheitsentscheid am 9. Februar 2014 zur so genannten Masseneinwanderung war ein kapitaler Fehler. Die Schweiz wird noch lange daran zu nagen haben. Irritierend ist für mich vor allem die Inkonsequenz, mit der viele Befürwortende dieser Initiative argumentierten und trotzig (nachdem sie innerlich realisiert haben, welchem „Seich“ sie zur Mehrheit verholfen haben) immer noch argumentieren. Weiterhin wollen sie „auf Teufel komm raus“ wachsen und reicher werden, und wenn’s dazu kommt, ist’s nicht recht.
„Raum für Wachstum“: Klar hat die Schweiz Platz für ein paar Millionen Menschen mehr als heute. Das gilt übrigens auch für Süddeutschland, die Lombardei, das südliche Skandinavien und andere Boomregionen. Aber es kann nicht darum gehen, dass wir uns und der Welt dies möglichst schnell beweisen.
Wir wachsen zu schnell. Der Motor ist überhitzt. Wir müssen den Mut aufbringen, weniger schnell wachsen zu wollen. Allerdings: Wenn der Motor überhitzt ist, dann ist es ein untaugliches Mittel, die obere Hälfte des Thermometers wegzuschneiden. Das hat Ecopop versucht, und erfreulicherweise haben drei Viertel der Stimmenden erkannt, dass damit nichts gewonnen ist. Jetzt gilt es, die richtigen Lehren aus den beiden Schicksalsabstimmungen des Jahres 2014 zu ziehen.
In den letzten fünfzehn Jahren war die Schweiz eine gewaltige Job-Maschinerie: Zu Zehntausenden sind neue Stellen geschaffen worden. Seit Jahrzehnten haben wir eine tiefe Geburtenrate. Da ist es nur logisch, dass der einheimische Nachwuchs nicht ausreicht. Stoppen müssen wir das Anwerben von immer mehr Firmen mit immer neuen Lockvogel-Angeboten, egal ob aus dem Ausland oder aus anderen Regionen unseres Landes. Stoppen müssen wir Steuergeschenke und den ruinösen Steuerwettbewerb, der die Armen ärmer und die Reichen realitätsblind macht. Stoppen müssen wir die Gier nach immer mehr von allem: unsere private Gier, unsere Firmengier, unsere Gier als Nation, als Gesellschaft. Das erträgt die Erde nicht.
Wir brauchen mehr Kreislauf statt Wettlauf. Also: Setzen wir uns bescheidenere Ziele. Weniger herkömmliche Standortförderung, weniger zusätzliche Arbeitsplätze, kürzere Pendelwege, keine neuen Einkaufstempel auf der grünen Wiese, keine neuen Bauzonen mehr, nur noch Entwicklung innerhalb der schon bebauten, aber schlecht genutzten Areale. Wir müssen schnell den Dreh finden, um langsamer zu wachsen.
Bei der Beratung des Globalbudgets „Wirtschaft und Arbeit“ im Solothurner Kantonsrat habe ich am 7. Dezember 2014 als Sprecher der Fraktion Grüne versucht, ein neues Ziel für die „Standortförderung“ des Kantons Solothurn im Leistungsvertrag an die Amtsstelle zu formulieren. Das Ziel des Regierungsrates zum Thema Standortförderung heisst „Steigerung des Wirtschaftswachstums“. Wohlverstanden, nicht bloss Erhalt des Wachstums, sondern eine weitere Steigerung, ein noch steilerer Anstieg. Meine Formulierung war „Erhalt und Sichtbarmachung der Standortvorteile“. Solche gibt es im Kanton Solothurn zuhauf, und davon sollen wir auch gerne sprechen dürfen. Wir müssen – davon bin ich überzeugt – eine Form der Standortförderung finden, die mittelfristig den ökologischen Fussabdruck unserer Region und unseres Landes auf eine Grösse hinunterbringt, welche eine Erde erträgt. Heute benötigen wir drei Erden.
Der Antrag, dieses Ziel abzuändern, ist im Kantonsrat hochkant verworfen worden. Als Gegenargument war subito zur Stelle: Wir brauchen dieses Wachstum, sonst können wir die Renten nicht finanzieren, den sozialen Ausgleich auch nicht. Da frage ich mich: Wie war das noch gleich? In den zurückliegenden fünfzehn Jahren des grossen Booms hat man massiv die Steuern gesenkt, namentlich in mehreren Etappen die Vermögenssteuern. Die Unternehmenssteuerreform II hat die grossen Aktienpakete noch grösser werden lassen.
In welcher Welt leben wir, wenn so viel Geld beisammen ist wie aktuell in der Schweiz, und gleichwohl alle Staatsebenen, Bund, Kantone, Gemeinden unter einen massiven Spardruck gestellt sind, so dass sie laufend Leistungen abbauen müssen? Wer bezahlt, wer profitiert? Wir haben es 2014 bei uns in Olten sehr „schön“ sehen können, wir sehen es im Kanton: Die Gebühren und Eintritte werden erhöht (sie sind für die Armen gleich hoch wie für die Reichen), die Personalsteuer wird erhöht (auch Nichtverdienende müssen sie bezahlen), die Prämienverbilligungen werden gekürzt. Eine nationale Initiative, welche verlangt, dass der Chef pro Monat nicht mehr verdient als der Chauffeur pro Jahr, wird ebenso abgelehnt wie die Initiative für ein Mindesteinkommen.
2015 werden wir über die Erbschaftssteuer abstimmen können. Ein Erbe von 2 Millionen Franken soll vollkommen steuerfrei sein. Was darüber ist, soll zu 20% besteuert werden, zu Gunsten der AHV und der Kantone. Es gibt wohl keine fairere Steuer als die Erbschaftssteuer: Ich komme zu Geld, ohne dass ich dafür arbeiten musste. Angenommen, ich würde von meinen Eltern vier Millionen erben, hätte ich die ersten zwei steuerfrei zur Verfügung und von den weiteren zwei kann ich 1,6 Millionen behalten. Bei einer solchen Regelung den Untergang des Unternehmertums herbeizureden ist für mich weltfremd und polemisch.
Wenn wir langsamer wachsen, müssen wir um so sorgsamer auf den sozialen Ausgleich bedacht sein. Aus meinem beruflichen Fachgebiet weiss ich: Eine Gesellschaft mit moderaten materiellen Unterschieden ist in allen Belangen gesünder als eine mit hohen Ungleichheiten. Auch die Reicheren sind in einer solchen Gesellschaft gesünder, die Ärmeren sowieso.
In diesem Sinne wünsche ich euch allen für 2015 von ganzem Herzen: gute Gesundheit!
Felix