Eine Woche nach meiner Veröffentlichung des nachfolgenden Textes ist die Zahl der Abstimmungsempfehlungen nochmals deutlich gestiegen. Zwischenstand nach einer Sessionswoche: 65 Zusendungen, davon 49 per Mail. Wer seit dem 28.2. Stellung bezogen hat, tat es meist gezielt zu einem Einzelgeschäft. Ein paar herausgepickte Beispiele: «Seilbahnen Schweiz» zum Enteignungsgesetz, das «Netzwerk Kinderrechte Schweiz» zu einer Motion, welche Sans Papiers kriminalisieren will (18.3421) und damit gegen die Kinderrechte verstossen würde, der «Schweizer Dachverband des Rohstoffhandels und der Hochseeschifffahrt STSA» gegen die Konzernverantwortungsinitiative oder der Schweizerische Städteverband für die Überbrückungsleistungen bei älteren Arbeitslosen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe schickte Empfehlungen zu neun Geschäften.

 

Am 2. März 2020 beginnt die dreiwöchige Frühlingssession: meine zweite Session als Nationalrat. Noch häufiger als vor der Wintersession haben sich zahlreiche Kreise mit konkreten Empfehlungen gemeldet, wie wir im Rat bei einzelnen Gesetzen, Motionen oder parlamentarischen Initiativen abstimmen sollen. Per Post erreichten mich 12 entsprechende Dossiers, per Mail waren es über 30 Zusendungen, teilweise dieselben. Mitgezählt sind nur jene, die seit dem 19. Februar eingetroffen sind, das heisst seit das Sessionsprogramm veröffentlicht worden ist.

Ein umfangreiches Dossier verschickte die Umweltallianz: Mitglieder sind Greenpeace, VCS, Pro Natura und WWF; als Kooperationspartner sind die Schweizerische Energiestiftung, Bird Life und die Alpeninitiative dabei. Ihr aktuelles Engagement erstaunt nicht, steht doch die Totalrevision des CO2-Gesetzes an. Es gibt rund 55 (!) Minderheitenanträge, über die wir einzeln abstimmen werden, und alle wollen das Gesetz verwässern. Die Umweltallianz empfiehlt überall, der Kommissionsmehrheit zuzustimmen und begründet das auch für mich sehr überzeugend. Darüber hinaus sind in dieser Session acht weitere umweltrelevante Geschäfte traktandiert, zu denen die Allianz ebenfalls Empfehlung und Begründung liefert. Unter ihnen ist die Konzernverantwortungsinitiative und der indirekte Gegenentwurf zu nennen.

Zur Konzernverantwortungsinitiative äussern sich viele Interessengruppen, darunter auch Travail.Suisse, die Dachorganisation der Gewerkschaften. Ihr 11-seitiges Dossier zur Session enthält für den Nationalrat Empfehlungen zu nicht weniger als 21 Geschäften, für den Ständerat zu neun Geschäften. Wichtige Anliegen sind beispielsweise die Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose, die Vermeidung von Ausgrenzung für Stellensuchende mit IV, eine Präventionskampagne gegen Sexismus oder die Volksinitiative «Stopp der Hochpreisinsel – für faire Preise.»

Die Fair-Preis-Initiative und der indirekte Gegenvorschlag dazu beschäftigen auch andere Kreise. Eine unterstützende Haltung nimmt die Allianz der Konsumentenorganisationen ein. Bekämpft wird beides von SwissHoldings, Verband der Industrie- und Dienstleitungsunternehmen in der Schweiz: Er umfasst 59 der grössten Konzerne unseres Landes, welche zusammen rund 70% der gesamten Börsenkapitalisierung der SIX Swiss Exchange ausmachen.

Erneut ist die Gesundheitsbranche sehr präsent. Die Versicherungen «Groupe Mutuel» macht zu acht nationalrätlichen und zu fünf ständerätlichen Geschäften ihre konkreten Empfehlungen. Sie will zum Beispiel die Revision des Krankenversicherungsgesetzes zwingend an die Einführung der einheitlichen Finanzierung der stationären und ambulanten medizinischen Leistungen knüpfen. Dem widerspricht H+, der Zusammenschluss der Spitäler und Pflegeinstitutionen, in seinem Sessionsstandpunkt. Er gibt Tipps zu weiteren sechs Geschäften, darunter (auf den ersten Blick sachfremd) zur Einführung des Verordnungsvetos auf Bundesebene: Ein Parlamentsrecht, das bisher erst unser Kanton Solothurn kennt.

Auch der Schweizerische Versicherungsverband SVV gehört zu den Dachorganisationen, die sich regelmässig per Post und Mail bemerkbar machen. Ihm geht es um die Differenzbereinigung im Versicherungsvertragsgesetz, aber auch um das Datenschutzgesetz, das Aktienrecht und das Geldwäschereigesetz; insgesamt äussert er sich zu zehn Geschäften.

Aus den Sektoren Bau, Immobilien und Industrie melden sich verschiedene Interessengruppen mit ihren Standpunkten, zum Beispiel der Schweizer Baumeisterverband mit je fünf Empfehlungen für beide Räte, sodann eine Allianz von sieben Branchenorganisationen zu Bau, Immobilien und Hauseigentum unter Leitung des Verbandes Immobilien Schweiz (VIS), weiter der Wirtschaftsverband «scienceindustries» (Chemie, Pharma, Life Science). Letzterer koordiniert übrigens auch die Parlamentarische Gruppe «Bildung, Forschung, Innovation», was ihr natürlich eine bestimmte Färbung verleiht.

Die Landwirtschaftspolitik steht aktuell und wohl noch einige Zeit weit oben auf der Traktandenliste. Per Post und Mail gemeldet hat sich bisher nur die Industriegruppe Agrar – auch sie ein Zweig von «scienceindustries», wo offensichtlich einige Fäden fürs Lobbying zusammenlaufen. Sie will zwar Transparenz beim Trinkwasser und Ursachenforschung zum Insektensterben, wehrt sich aber gegen Einschränkungen oder gar ein Verbot von Glyphosat.

Ein letztes Beispiel einer aktiven Branche: die Luftfahrt. Der CEO von SWISS meldete sich persönlich per Brief mit seinen Empfehlungen, wonach auf die Flugticketabgabe zu verzichten sei – wenn doch, wie «zahm» sie auszugestalten sei. Anders der Flughafen Zürich: Er empfiehlt Zustimmung, weil ein Teil der Flugticketabgabe zweckgebunden eingesetzt werden soll.

Auffallend bei allen Interessenvertretern, die sich zum CO2-Gesetz melden: Einleitend wird von allen betont, wie viel die eigene Firma oder Branche bereits zu Gunsten des Klimas tut. Na ja. Das undankbare Klima will es bloss nicht merken: Soeben hat es uns den wärmsten «Winter» (Durchschnitt der Dez.-Jan.-Feb.-Temperaturen) seit Messbeginn 1864 beschert.

Weitere Ausführungen zu den Lobby-Kontakten auf meiner Webseite https://felix-wettstein.ch unter Aktuell und unter https://felix-wettstein.ch/transparenz-in-der-politik