Neues vom Bundeshaus-Lobbying: Einladungen ausserhalb der Session
Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier werden zu allerhand Anlässen eingeladen. Dazu gehören auch Tagungen oder Kongresse, für die «Normalsterbliche» zahlen müssen, wir jedoch oft nicht oder nur einen reduzierten Beitrag. Und natürlich dürfen wir an zahlreichen «Apéro riche» mitessen und mittrinken. Einladungen aus dem eigenen Kanton Solothurn bewerte ich etwas anders als jene aus der Restschweiz, denn diese Einladungen richten sich gezielt an uns Bundesparlamentarier*in aus dem Kanton (insgesamt 8). Zudem erhalte ich Einladungen in meiner Rolle als Präsident von www.pro-salute.ch oder als Co-Präsident von www.starke-region-basel.ch; auch diese zähle ich nachfolgend nicht mit.
In früheren Blog-Beiträgen habe ich bereits aufgezeigt, wie wir während der dreiwöchigen Sessionen zu allerhand Anlässen über Mittag oder an Abenden eingeladen sind: In der ersten Session dieser Legislatur – noch vor Corona – waren es 35 Anlässe (hier mein Beitrag vom Dezember 2019). Oft sind es Parlamentarische Gruppen, die einladen: Sie sind ein einflussreiches Instrument des Bundeshaus-Lobbyings (mein Blog-Beitrag vom Juni 2022).
Es bleiben also die Einladungen für Anlässe ausserkantonal und ausserhalb der Sessionszeiten, ohne dass ich selber für einen Beitrag wie zum Beispiel eine Podiumsteilnahme oder ein Grusswort angefragt bin. Seit Jahresbeginn habe ich, Stand 12. Juni 2023, per Mail nicht weniger als 79 solcher Einladungen erhalten! Darauf möchte ich heute einen Blick werfen.
Präzisierend zwei Dinge: Zum einen habe ich wohl gewisse Einladungen unbeachtet gelöscht; es wären also eher noch mehr. Zum anderen sind es nicht 79 verschiedene Veranstaltungen: Oft werden wir für denselben Anlass mehrmals kontaktiert. Wir erhalten Vorankündigungen (neudeutsch «Save the date») oder Erinnerungsmails (neudeutsch «Reminder»). So bin zum Beispiel für den Coop Gedankenaustausch über Politik und Wissenschaft 2023 vom 8. Mai 2023 gleich viermal umworben worden – ohne Erfolg, ich hatte nicht teilgenommen.
Bereits dreimal bemühte sich auch der Branchenverband Swissmem um meine Teilnahme am 16. Industrietag, diesmal in Lausanne. Er steht noch bevor: am 29. Juni. Ich könnte mir online das kostenlose Ticket sichern, wenn ich auf den Einladungscode VIP2023 klicke. Normale Gäste zahlen CHF 250.-. Ich verzichte. Auch zum «Private Banking Day», der am 22. Juni in Basel im Novartis Campus über die Bühne geht, bin ich schon dreifach eingeladen worden. Das Thema: «Zukunft der Schweizer Neutralität in einer polarisierten Welt». Unter den «Referenten» (sic!) sind auch Bundesrätin Karin Keller-Sutter oder Monica Rühl, Direktorin von Economiesuisse. Gleichwohl werde ich an diesem Vormittag in Olten Unterschriften für unsere Klimafonds-Initiative sammeln…
Eine kurze Distanz hätte ich am 30. März über Mittag bis nach Erlinsbach AG gehabt, zum Anlass mit dem durchaus verheissungsvollen Titel «Regionalität – alles nur Marketing?» Die dritte Zuschrift begann mit den Worten: «Sehr geehrter Herr Wettstein, Die Träger des Business Club Mittelland, AMAG, AXA, Messer Schweiz AG und SwissLegal Ltd erinnern Sie daran, dass Sie sich zum nächsten Anlass des Business Club Mittelland bisher weder an-, noch abgemeldet haben.» Oha!
Am gleichen Tag wäre ich drei Kilometer entfernt zu den 15. Aarauer Demokratietagen unter dem Titel «Klimakrise und Demokratie» eingeladen gewesen, veranstaltet vom Zentrum für Demokratie in Aarau. An diesen Demokratietagen möchte ich gerne wieder mal teilnehmen. Dieses Jahr ging’s leider nicht, denn ebenfalls an diesem Tag war Sitzung unserer Finanzkommission.
Auch wenn es nicht täuscht, dass wir mehrheitlich von finanzkräftigen Kreisen eingeladen werden: Es gibt auch Einladungen von Non-Profit-Organisationen: Beispielsweise luden Amnestie International oder der Schweizerische Israelitische Gemeindebund zur Generalversammlung samt Rahmenprogramm ein. Caritas Schweiz lädt uns jährlich zur Verleihung des «Prix Caritas» ein. Auch staatliche Stellen versammeln uns gerne: Die Nationale Informationsstelle zum Kulturerbe NIKE führte die interdisziplinäre Tagung «Herausforderungen für das Kulturerbe» in Solothurn durch. Die Abkürzung EUSALP steht für «EU-Strategie fort he Alpine Region» (inkl. CH-Beteiligung»: Sie führte dieses Jahr in Freiburg i. Ue. ihre zweitägige Konferenz zum Thema Kreislaufwirtschaft durch. Beides hätte mich sehr interessiert – und beides fand gleichzeitig statt: am 30. und 31. März. Ja, dieser 30. März hatte es wirklich in sich, aber wie erwähnt hatte die Finanzkommission halt einfach Vorrang.
Auch aus dem Kultursektor erhalte ich immer wieder Einladungen (mehrheitlich und zum Glück aus dem eigenen Kanton). Jährlich werden wir nach Locarno zum Filmfestival eingeladen, es winkt das «dîner politique» plus Film. «Persönlich» eingeladen wurde ich auch vom Stapferhaus Lenzburg zur Präsentation der Teilzeitstudie im Rahmen der Ausstellung «Geschlechtergerechter». Und die Gosteli-Stiftung, Archiv zur Geschichte der schweizerischen Frauenbewegung, lädt uns zu den zweiten Gosteli-Gesprächen herzlich ein.
Wenn ich also die Doppel-, Dreifach- und Vierfacheinladungen herausrechne, sind es immer noch 53 Anlässe. Einige Einladungen für das laufende Jahr 2023 trafen schon im vergangenen Jahr ein, diese sind nicht mitgezählt. Es hält sich etwa die Waage mit den Einladungen für Veranstaltungen, die erst noch bevorstehen. Das bisherige Jahr hatte 23 Wochen oder 161 Tage: Wenn ich alles wahrnehmen wollte, dann wäre ich an jedem dritten Tag auf Achse. Wohlverstanden, alle Anlässe in unserem Kanton und alle Anlässe unserer Partei habe ich nicht mitgerechnet – es sind jene, an denen ich tatsächlich teilnehme, wenn immer ich es einrichten kann. Aber bis auf den Apéro des Netzwerks Schweizer Pärke am 26. Mai auf dem Bundesplatz (als ich sowieso in Bern zu tun hatte) habe ich alle Einladungen zu ausserkantonalen Anlässen, die nicht am Rand einer Session stattfanden und bei denen ich «nur» Gast oder VIP sein dürfte, dieses Jahr bisher auslassen müssen. Ob das Lobbying gleichwohl wirkt? Wir wissen es längst: Vertrauen aufbauen ist alles…