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Vor und während der Frühlingssession 2024 sind auffallend viele Empfehlungsschreiben per Mail und seltener auf Papier bei mir eingetroffen, welche sich auf ein einzelnes Geschäft bezogen. Zwei umstrittene Themen greife ich heraus: Nutri-Score und die «Perspektive Bahn 2050».

Bereits im Dezember 2022, in einem früheren Beitrag zum Funktionieren des Bundehaus-Lobbyings, bin ich auf die Einzelempfehlungen eingegangen (Hier der Link). Auch in den letzten Wochen wurde dieses Mittel der Einflussnahme rege genutzt. Ich zählte bis am Mittwoch der dritten Sessionswoche nicht weniger als 60 Zuschriften zu ganz unterschiedlichen Geschäften! Diese Empfehlungen ergänzen die Sessionsbriefe, von denen diesmal 54 eintrafen. Trotz des breiten Themenspektrums gibt es hie und da Geschäfte, zu denen sich widersprechende – oder müsste ich sagen ergänzende? – Empfehlungen eintreffen.

Alle wollen mehr Schienen (und Tunnels)

Am Starttag zur Session, am 26. Februar 2024, hatten wir das Traktandum 23.055 mit dem eher technischen Titel «Stand und Änderungen bei Ausbauprogrammen der Bahninfrastruktur und neue Langfriststrategie ‘Perspektive Bahn 2050’» auf dem Programm. Der Ständerat hatte dieses Geschäft bereits in der Wintersession und dabei bereits die Aufstockung der finanziellen Mittel beschlossen. In der Woche vor unserer Debartte hatten sich dreimal regionale Allianzen gemeldet, von denen ich zum Teil noch nicht wusste, dass es sie gibt. Nun weiss ich mehr: Bereits seit 2008 gibt es die «Städte-Allianz ÖV Ost- und Zentralschweiz (https://staedte-allianz.ch/), mit von Partie sind Luzern, Schaffhausen, Sankt Gallen, Winterthur, Zug und Zürich. Das Co-Präsidium bilden 5 nationale Politiker*innen aus 5 Städten und 4 verschiedenen Parteien und Städten. Und selbstverständlich setzen sie sich mit aller Kraft dafür ein, dass das Schienennetz vor allem in der Zentral- und Ostschweiz möglichst bald ausgebaut wird.

Auch von «Ouest Rail» (https://ouestrail.ch/) mit Sitz in Montey (VS) habe ich zum ersten Mal gehört. «La Suisse occidentale sur de bons rails», das wollen wir natürlich alle. Diese Association wird im kommenden August bereits 20-jährig. Und schliesslich hat sich auch die «Hauptstadtregion Schweiz» (https://hauptstadtregion.ch) zum selben Geschäft gemeldet. Sie ist mir gut bekannt: An ihren Tagungen habe ich schon mehrmals teilgenommen. Ihre Tentakel reichen von Bern aus nach Biel, Grenchen, Solothurn, nach Freiburg, Neuenburg, Brig, Visp und Sierre. Die Kantone BE, FR, NE, VS und SO tragen diesen Verein mit. Er setzt sich diesmal für den Doppelspur im Lötschbergtunnel und (wie Ouest Rail natürlich auch) für die Parallelroute Lausanne-Genf ein. Letzteres will auch die Motion 23.3668, über die wir am 11. März als Zweitrat zu beschliessen hatten. Zuvor traf noch die ausdrückliche Empfehlung der Waadtländer Regierung ein. Wir stimmten überwältigend zu und überstimmten damit den Bundesrat. Und schliesslich ist noch die Motion 22.3827 in der Warteschlaufe: Dazu kommt die dringende Empfehlung von der Stadt Baden. Als ehemaliger Badener werde ich mich schwerlich entziehen können, auch wenn der Bundesrat Ablehnung empfiehlt.  

Angesichts dieser Häufung von kraftvollen Regionalinteressen ist es bald einfacher zu zeigen, aus welcher Ecke diesmal keine Empfehlung kam. So sehr zwischen Rheinfelden und Mulhouse, zwischen Laufen und Lörrach das zukünftige Herzstück eine Herzensangelegenheit für die Menschen im Grossraum Basel ist: Mit dieser Bitte um oberste Priorität hat jetzt aus der Region des Neo-Bundesrats, der aktuellen Ständeratspräsidentin und des Nationalratspräsidenten niemand angeklopft. Immerhin sind wir am 2. Mai zum trinationalen Bahnkongress in Basel eingeladen und dürfen sogar gratis teilnehmen (Normalsterbliche zahlen CHF 350).

Nutri-Score – gesunde Entscheidungshilfe oder unbrauchbar und marktschädigend?

Dreimal pro, dreimal contra: So schön gehen die Empfehlungen selten auf. Das Thema «Gesunde Ernährung» entzweit. Der Auslöser ist nicht etwa ein persönlicher Vorstoss, sondern die Motion 23.3018 der ständerätlichen Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur mit dem Titel «Problematischer Einsatz von Nutri-Score unterbinden».

Wir alle haben sicher schon verarbeitete und verpackte Lebensmittel eingekauft, auf deren Packung der farbige Streifen mit der Skala A (dunkelgrün) bis E (rot) abgedruckt war. In diversen Nachbar­ländern gibt es diese einfache Hilfe zur Erkennung der Nährwertqualität eines Nahrungsmittels, vor allem bezüglich des Fett-, Salz- und Zuckergehalts. Als Importprodukte gibt es sie auch bei uns zu kaufen. Das Label «Nutri-Score» gehört der Organisation Santé Public France. In der Schweiz ist es freiwillig, ob Unternehmen diesen Score einführen wollen oder nicht. Offenbar wird befürchtet, dass es obligatorisch oder nur schon empfohlen werden könnte.

Der Bauernverband führt die Liste der skeptischen Organisationen an. Gleich sechs von ihnen empfehlen uns in einem gemeinsamen Brief die Annahme der ständerätlichen Motion und damit die Abwehr eines Obligatoriums (was gar nicht vorgesehen ist). Im Brief wird argumentiert, der Nutri-Score würde naturbelassene einheimische Produkte benachteiligen, er beruhe auf wissenschaftlich fragwürdigen Indikatoren, würde «gute» Eigenschaften wie ungesättigte Fettsäuren, Vitamine und Mineralstoffe gar nicht berücksichtigen. Ausserdem würde er den individuellen Unterschieden unter uns Menschen nicht gerecht. Am Tag vor der Abstimmung meldete sich noch das Consortium Emmentaler AOP und legte uns den Brief, der unter anderem von „Switzerland Cheese“ unterzeichnet ist, nochmals ans Herz.

Support kommt zumindest indirekt von der Industrie: von der fial – Föderation der Schweizerischen Nahrungsmittel-Industrien (Präsidentin: Petra Gössi, Ständerätin SZ). Deren Empfehlung an uns Parlamentarier*innen bezieht sich zwar auf eine andere Motion (22.3188, von Martina Munz, SP), aber auf ein ganz ähnliches Thema: «Ernährungsempfehlungen umsetzen für weniger Fleisch, dafür nachhaltig, tiergerecht und regional erzeugt». Das kommt der «fial» in den falschen Hals.

Auf der anderen Seite – und diesmal wieder ausdrücklich zum Nutri-Score – steht die Allianz Ernährung und Gesundheit. Sie empfiehlt uns, die ständerätliche Motion als unnötig abzulehnen, eben weil der Score für Produktion und Detailhandel freiwillig ist. Vor allem betont sie den Nutzen dieser Produkteinformation, welche einfach verständlich ist und deren Berechnung transparent sei. Sie hat dazu ein Faktenblatt veröffentlicht. Zur Allianz gehören diverse medizinische Gesellschaften, Gesundheitsligen und Konsumentenorganisationen.

Letztere haben am 9. März zu dritt nachgedoppelt. Der Schweizerische Konsumentenschutz SKS und die analogen Organisationen in der Romandie (FRC) sowie in der italienischen Schweiz (ACSI) schreiben uns: «Der Nutri-Score ist eine gut verständliche Information über die Nährwerte eines verarbeiteten Lebensmittels, welche auch junge und an Ernährung wenig interessierte Konsumentinnen und Konsumenten auf einen Blick verstehen». Es brauche den Nutri-Score, weil eine verständliche Kennzeichnung ein erfolgreicher Beitrag gegen Übergewicht und Adipositas ist, weil die Berechnungen unabhängig erfolgen und laufend verbessert werden, weil die Hersteller selbst daran arbeiten, ihre Rezeptur zu verbessern, um eine bessere Bewertung zu bekommen. Ein weiteres Argument liefert die Allianz Gesunde Schweiz (Zusammenschluss von über 40 nationalen Organisationen): „Es führt zu unnötiger Verkomplizierung, eine freiwillige Initiative gesetzlich zu regeln. Die Motion 23.3018 ist unnötig.“

Über die Kommissionsmotion 23.3018 wurde am 14. März nachmittags abgestimmt. Welche Lobby war stärker? Diejenigen aller Gesundheitsorganisationen, Medizingesellschaften, Ligen? Oh nein. Sie wurde mit 102 zu 85 Stimmen in die Schranken verwiesen. Von jenen, die bei jeder Gelegenheit nach Bürokratieabbau rufen.