
Dammbrüche und Mäuseschrittchen in der Gesundheitspolitik
Heute Vormittag haben die beiden Räte in der Schlussabstimmung praktisch einstimmig Ja gesagt zur Änderung des Krankenversicherungsgesetzes unter dem Titel «Massnahmen zur Kostendämpfung – Paket 2» (Details und Verlauf hier). Ob mit diesen Massnahmen viel zur Senkung von Kosten getan werden kann? Euphorisch ist niemand. Jene Massnahme, welche vermutlich am meisten Wirkung erzielt hätte – die koordinierte bzw. integrierte Versorgung – überlebte die parlamentarische Debatte nicht.
Am Ursprung dieser Gesetzesänderung stand 2017 der Bericht der «Expertengruppe Diener» (Präsidentin war die ehemalige Zürcher Stände- und Regierungsrätin Verena Diener), welcher 38 Massnahmen umfasste. Ein Teil davon wurde nun in drei Etappen verarbeitet, als Paket 1a, Paket 1b und Paket 2. Letzteres lancierte der Bundesrat 2022 mit sieben Massnahmen. Einige betrafen eher technische Aspekte wie die Verpflichtung zur elektronischen Rechnungsübermittlung, Referenztarife für ausserkantonale Wahlbehandlungen oder die Grundlagen für bessere Qualitätsprüfungen. Sie waren nicht bestritten. Finanziell am meisten – die Rede ist von 400 Millionen jährlich – bringt der Rabatt auf umsatzstarken Medikamenten: Die Margen der Pharmahersteller sind dann nicht mehr ganz so hoch wie bisher. Weitere Neuerungen: Beratungsleistungen in der Apotheke werden adäquater vergütet; auch die Leistungen der Hebammen werden aufgewertet. Vorderhand muss abgewartet werden, ob nicht noch das Referendum ergriffen wird.
Die von mir präsidierte Allianz pro-salute.ch hatte sich während den Beratungen dafür stark gemacht, dass die erste Massnahme in diesem Paket, die «Stärkung der koordinierten Versorgung durch die Definition von Netzwerken zur koordinierten Versorgung als eigene Leistungserbringer» eine Chance gehabt hätte. Wir waren damit in guter Gesellschaft, mit den Kantonen, dem Heimverband, dem Spitexverband und Berufsverbänden wie die gesundheitsbezogene Soziale Arbeit (Sages). Doch der Widerstand der Kassen und einzelner Berufsgruppen, allen voran die FMH der Ärztinnen und Ärzte, war stärker. Zwischendurch fand der Ständerat zwar eine abgeschwächte Variante, aber am Schluss blieb gar nichts. Es gibt somit vorderhand keinen «Königsweg» mit der integrierten Versorgung als Regelfall: Weiterhin darf, wer will, direkt von Spezialistin zu Spezialistin hüpfen.
Dammbruch beim Obligatorium der Krankenversicherung
Nachdem sie im letzten Hebst bereits im Ständerat eine Mehrheit hatte, war am 13. März die Motion 23.4088 von Ständerat Peter Hegglin «Lockerung des Vertragszwangs im KVG» auf der Traktandenliste. Ich übernehme hier wörtlich, was wir dazu von pro-salute.ch an alle Ratsmitglieder geschickt hatten:
«Zwang ist verpönt. Wenn jedoch im vorliegenden Kontext von Zwang die Rede ist, dann wird damit einzig die Verpflichtung der Krankenversicherer angesprochen, dass sie Leistungen, die in der Grundversicherung eingeschlossen sind, immer vergüten müssen, wenn die Leistungserbringenden als Fachpersonen akkreditiert sind.
Für Patientinnen und Patienten handelt es sich nicht um einen Zwang, sondern um eine Garantie. Gleiches gilt für das medizinische, pflegerische und therapeutische Fachpersonal, für Praxen, Ambulatorien und Kliniken. Es wäre verheerend, wenn diese Garantie in der Grundversicherung wegfallen würde. Namentlich für Patientinnen und Patienten, deren Behandlung spezialisierte Fachkräfte oder eine kontinuierliche Betreuung erfordert, hätte es schwerwiegende Folgen. Sie wären in der permanenten Unsicherheit, ob ihre Versicherung auch wirklich zahlt. Therapieunterbrüche und -verzögerungen wären die Folge. Ausserdem würde ein grosser bürokratischer Aufwand entstehen, um die Informationen darüber bereitzustellen und aktuell zu halten, welche Versicherung mit welchen Leistungserbringenden zusammenarbeitet.»
Wir hatten keinen Erfolg: Die Motion wurde recht deutlich angenommen. Wer zu diesem Vorstoss lobbyiert hat – die einen vergeblich, die anderen erfolgreich – beleuchte ich hier: Bewirkt eigentlich Lobbying etwas?
Auch bei Laboranalysen wollen die Kassen eine Selektion
Zum kleinen Dammbruch kam es bereits am 3. März: Hier war der Nationalrat Erstrat und befürwortete leider mehrheitlich die Vorlage 24.037, die auf einen überwiesenen Vorstoss zurückgeht. «Tarife der Analysenliste, Änderung» lautet der unverfängliche Titel. Er eröffnet den Krankenkassen die Möglichkeit, direkt mit Labors Verträge abzuschliessen und danach auch im obligatorischen (!) Versicherungsbereich nur noch die Vertragslabors anzuerkennen. Viele haben davor gewarnt, doch die einflussreichen Kassen behielten Oberhand. Auch hierzu die Überlegungen von pro-salute.ch:
«Patientinnen und Patienten müssen darauf vertrauen können, dass ihre medizinischen Analysen in qualifizierten Laboren durchgeführt werden. Ohne vertragliche Regelungen hätten sie keinerlei Einfluss darauf, wo ihre Proben ausgewertet werden.
Eine unklare Vertragslage würde die Versicherten überfordern, da sie nicht nachvollziehen könnten, welche Labore mit ihrer Krankenversicherung zusammenarbeiten und welche Kosten übernommen werden.
Die Qualität und Fachkompetenz der Labore muss gewährleistet sein. Die Zulassungsbehörden müssen sicherstellen, dass ausschliesslich professionell ausgebildetes Fachpersonal Analysen durchführt.
Labordienstleistungen, die den Qualitätsstandards entsprechen, müssen von der Grundversicherung abgedeckt sein, um eine faire und solidarische Finanzierung des Gesundheitswesens zu gewährleisten.»
Mindestfranchise soll erhöht werden
Auch dazu kam eine im Ständerat bereits überwiesene Motion 24.3636 von Esther Friedli «Mindestfranchise den realen Gegeben-heiten anpassen» nun in die grosse Kammer. Und auch hier gebe ich die Empfehlung von pro-salute.ch wieder:
«Menschen mit geringen finanziellen Mitteln, darunter oft chronisch Kranke, wählen häufig die tiefste Franchise, um sich hohe Zusatzkosten zu ersparen. Bereits die Prämien sind für sie je länger je schwerer tragbar. Eine Erhöhung der Mindestfranchise würde sie finanziell zusätzlich belasten, was die gesundheitliche Versorgung für diese besonders vulnerablen Gruppen erschweren würde. Das Risiko steigt, dass sie sich nicht rechtzeitig in Behandlung begeben und unnötige Folgekrankheiten erleiden.»
Man ahnt es: Auch hier wurde diese Position deutlich in die Minderheit versetzt. Jene, die behaupten, unser Gesundheitssystem sei je länger je teurer, weil die Leute zu oft «zum Arzt rennen», hielten den moralischen Zeigfinger in die Höhe: Masslosigkeit muss abgestraft werden. Niemand sprach von der Masslosigkeit jener, die zu viel und zu teuer behandeln.
Sammelklagen gibt es im schweizerischen Recht weiterhin nicht
Zumindest indirekt passt auch dieses Thema zum Gesundheitswesen, insbesondere zu Rechten von Konsumentinnen und Konsumenten, von Patientinnen und Patienten. Wir diskutierten eine Änderung der Zivilprozessordnung. Vor elf Jahren hatte das Parlament den Bundesrat damit beauftragt, eine gesetzliche Grundlage zum kollektiven Rechtsschutz zu schaffen: Wir kennen es unter dem Begriff «Sammelklagen». Praktische Anwendungsbeispiele gäbe es auch in der gesundheitlichen Versorgung.
Benachbarte Länder kennen solche Instrumente für das rechtliche Gehör, doch das schweizerische Parlament legt sich weiterhin quer. Das war eine der grossen Enttäuschungen dieser Session. Sehr treffend hat es SRF dargestellt; dem muss ich nichts beifügen: SRF-News vom 18. März.