Strassenverkehr: Der Schutz von Schwächeren ist für die Mehrheit kein Argument
Das Strassenverkehrsgesetz soll angepasst werden, weil neue Technologien nach neuen Antworten rufen. Eine Mehrheit im Nationalrat nutzt dies gleich als Gelegenheit, um Rasen und alkoholisiertes Fahren künftig weniger hart zu bestrafen, um Rundstreckenrennen zu erlauben und Töffs auf dem Trottoir parkieren zu lassen. In der Gesamtabstimmung sind wir GRÜNEN die einzigen, die dazu klipp und klar sagen: «Nicht mit uns».
Das Strassenverkehrsgesetz stammt aus dem Jahr 1958, es ist also gleich alt wie ich. Es hat immer mal wieder Revisionen erlebt. Eine solche steht erneut an, damit das Gesetz mit den Entwicklungen Schritt halten kann. Vorgeschlagen ist ein zusätzliches Kapitel «Fahrzeuge mit einem Automatisierungssystem», also führer*innenlose Fahrzeuge, samt Regelungen zum Fahrmodusspeicher. Auch Regelungen zu Datenverarbeitung, Zugriffsrechte auf Daten sowie Versicherungsfragen sollten angepasst werden. So weit so einleuchtend und unspektakulär.
Allerdings sind in den letzten Jahren von der bürgerlichen Parlamentsmehrheit Vorstösse überwiesen worden – gegen den Willen des Bundesrates – welche die Strafen für das Fehlverhalten im Strassenverkehr lockern wollen. Und dies, obwohl das Programm «Via sicura» (es wurde 2012 verabschiedet) eindeutig ein Erfolg ist: Die Zahl der schweren Verkehrsunfälle und der Verkehrstoten sank laufend, letztere lagen 2019 erstmals unter 200. Das ist erfreulich, aber das Ziel ist noch nicht erreicht. Hörbar widerwillig hat sich der Bundesrat dem Parlamentswillen gebeugt und die Paragrafen zu den Sanktionen angepasst.
Und was macht die Mehrheit der nationalrätlichen Verkehrskommission? Sie setzt noch eins drauf. Die zeitliche Untergrenze zum Führerausweisentzug nach einem Raserdelikt soll weit nach unten gedrückt werden. Fürs alkoholisierte Fahren sollen es mildere Strafen absetzen. Öffentliches Warnen vor Geschwindigkeitskontrollen soll nicht mehr gebüsst werden. Es kommt noch dicker: Das geltende Verbot für Öffentliche Rundstreckenrennen soll fallen. Töffs sollen ungestraft auf dem Trottoir parkieren dürfen. All das führt leider auch im gesamten Nationalrat zu Mehrheiten. Hingegen wird erfolgreich bekämpft, was zu besserer Sicherheit von Velofahrerinnen und Velofahren führen würde (und in anderen Ländern Standard ist): Weder ein 1.5 Meter-Abstand zwischen Auto und Velo beim Überholen noch ein Überholverbot im Kreiselverkehr haben eine Chance.
Und dann die Gesamtabstimmung: 156 zu 28. Nur gerade wir GRÜNE stimmten gegen diese Kaskade von Verschlechterungen der Verkehrssicherheit. Alle anderen, die zwar bei einzelnen Bestimmungen zusammen mit uns für den Schutz der Schwächeren eingestanden sind und mit uns überstimmt wurden, nicken das Gesamtergebnis ab: die SP, die Grünliberalen, die EVP. Ich muss schon sagen: In diesem Moment habe ich die Welt nicht mehr verstanden. Wir können nur hoffen, dass der Ständerat wenigstens ein bisschen zurückbuchstabiert.
PS: In den über 100 Artikeln dieses Gesetzes gibt es nur Fahrzeugführer, Halter, Inhaber, Benützer, Mitfahrer, Fussgänger, Radfahrer; jedoch keine Halterinnen, Führerinnen, Inhaberinnen, Radfahrerinnen. Aus der Mittepartei, der FDP und der SVP haben sich auffallend viele Männer mit Vehemenz für die Lockerungen der Strafbestimmungen eingesetzt. Zufall?