
Gedenkfeier Rudolf Steiner – Begrüssungsworte
28. März 2025: Begrüssungsworte anlässlich der Gedenkfeier zum 100. Todestag Rudolf Steiners
Dornach, Standort des Goetheanums, liegt in der Schweiz, im Kanton Solothurn. Dornach hat rund 6900 Einwohnerinnen und Einwohner – es ist also nicht sehr gross. Aber das Goetheanum macht Dornach auf der Weltkarte sichtbar.
Diese Aussage stammt nicht von mir, sondern von Daniel Urech, Gemeindepräsident von Dornach und Parteikollege von mir. Ich bin als Nationalrat des Kantons Solothurn eingeladen worden, ein paar Worte zu Ihrer heutigen Gedenkfeier beizutragen. Innerhalb der Schweiz ist auch der Kanton Solothurn nicht gross, er schickt gerade mal sechs Abgeordnete in die grosse Parlamentskammer. Als Politiker dieses Standortkantons darf ich also zu ihnen sprechen. Als Neugieriger auch: Neugierig auf das Wirken einer lebendigen Institution, seit über 100 Jahren hier auf dem «Höögel», wie es die Einheimischen in ihrem Dialekt benennen, mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Distanz. Das Goetheanum hat Leuchtturmcharakter, und nur gerade 150 Meter entfernt ist bereits die Kantonsgrenze zu Basel-Landschaft. Alles hier bildet eine grosse und eng verwobene Region um Basel.
Der Todestag eines Mannes, der die letzten Lebensjahre hier in Dornach verbracht hatte – etwas zufällig vielleicht – jährt sich zum hundertsten Mal: Rudolf Steiner. Der Ort hier, die Anthroposophie insgesamt, ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Mir ist das Werk und das Wirken von Rudolf Steiner im Studium begegnet, vor allem sein pädagogisches Erbe. Ich habe um 1980 herum in Zürich Pädagogik, Erziehungswissenschaften studiert. In meinen Schwerpunkten Pädagogische Psychologie und Sozialpädagogik stand das öffentliche Bildungswesen und das öffentlich verantwortete Sozialwesen im Zentrum, keine Frage. Mich hat immer interessiert, wie die Erkenntnisse aus dem Feld der Privatschulen das öffentliche Bildungswesen bereichern und befruchten können: die Menschenbilder, die Unterrichtsformen, die Aus- und Weiterbildung von Lehrpersonen. Viele derartige Inspirationen kamen und kommen von der Waldorf-Pädagogik oder eben der Steiner-Pädagogik.
Dass Rudolf Steiner auch in anderen Disziplinen ein unglaubliches Wissen, besser müsste man wohl sagen eine unglaubliche Einsicht hatte, habe ich von Anfang an mitbekommen, auch wenn es nicht meine Fachgebiete waren: Medizin und Heilkunde, Landwirtschaft, Philosophie, Kunst. Vor allem waren ihm die Verbindungen zwischen dem, was wir oft disziplinär unterteilen, wichtig. Das scheint mir bis heute inspirierend.
Ich spanne den Bogen wieder zurück zur Pädagogik: Aktuell gerät in verschiedenen Kantonen der deutschsprachigen Schweiz der Französischunterricht an den Primarschulen (Grundschulen) unter Druck. Der Kanton Appenzell Ausserrhoden hat vor kurzem beschlossen, ihn abzuschaffen. In anderen Kantonen werden entsprechende Begehren demnächst entschieden. Man ist unzufrieden, weil der Französischunterricht auf dieser Stufe angeblich «nichts bringt». Es seien zwei Wochenlektionen «für die Katz’». Mir fällt in solchen Momenten auf, wie fast alle in diesem Stundenplandenken gefangen sind: Der Wochenstundenplan muss aus 24 bis 30 Lektionen bestehen, in denen «alles» thematisiert werden muss. Da denke ich mir jeweils: Warum nicht Epochenunterricht? Warum nicht 10 Wochen lang 8 Lektionen Französisch pro Woche, und danach wieder etwas anderes?
Das aktuelle Jahr 2025, das 100. Todesjahr von Rudolf Steiner, könnte als seltsames, verstörendes Jahr in die Geschichte eingehen. Das Weltgeschehen wühlt uns gerade auf. Es hinterlässt uns oft ratlos. Wie reagieren wir Menschen in solchen Situationen? Viele stimmen ein in den Ruf nach der starken Hand. Doch was opfern sie damit? Sie opfern den Gebrauch des eigenen Denkens. Sie lassen zu, dass Errungenschaften unserer Zivilisation in Frage gestellt werden: das Völkerrecht, die Menschenrechte, die Grundsätze der Demokratie, vor allem die Gewaltenteilung, die Medienfreiheit. Wenn wir einen Blick in die Geschichte werfen, stellen wir fest: Es hat immer damit begonnen, dass jene, die oft sogar demokratisch an die Macht kamen, die Unabhängigkeit der Gerichte aufgehoben und die kritischen Medien verboten haben. Wir sind wieder an einer solchen Schwelle.
Wenn die Welt verstörender wird, rufen wir nach Sicherheit. Und Sicherheit setzen viele gleich mit Waffenpotenz. Alle Welt will nun aufrüsten, auch die Schweiz. Die Ausgaben für die Rüstung sollen innerhalb weniger Jahre praktisch verdoppelt werden. Gleichzeitig haben wir eine sehr rigide Schuldenbremse: Sie ist in diesem Land eine heilige Kuh. Darum sind die politischen Mehrheiten überzeugt, dass alles Geld, das man für dieses verengte Verständnis von Sicherheit aufbringen muss, an anderen Stellen weggekürzt und weggestrichen werden müsse.
Sie fragen sich jetzt vielleicht, was das mit dem heutigen Anlass, mit dem Goetheanum, mit dem Gedenken an Rudolf Steiner zu tun hat. Es hat vielleicht mehr miteinander zu tun als uns lieb ist. Wenn es nach den Plänen unserer Finanzministerin geht, muss ein grosser Brocken des Fehlbetrags im Bereich Bildung und Forschung weggespart werden. Und ein weiterer grosser Brocken betrifft die internationale Zusammenarbeit.
Das Goetheanum ist Ausdruck von Internationalität. Es trägt mit seinem Tun zu mehr Sicherheit bei, Sicherheit in einem umfassenden Sinn. Es engagiert sich stark in Forschung und Bildung. Es leistet dies ohne staatliche Zuschüsse. Also ist es vor möglichen Kürzungsmassnahmen der öffentlichen Hand verschont. Darin könnte eine Chance liegen: Private, unabhängige Initiative wird vielleicht sogar gestärkt, wenn die staatliche Hochschulförderung, der Nationalfonds oder Innosuisse Federn lassen müssen. Meine Befürchtung ist allerdings, dass der Wert und die Bedeutung von weiterführender Bildung und von Forschung generell angezweifelt wird, egal wer sie betreibt.
Hinzu kommt: Wer Sicherheit in der Abschottung und im Egoismus sucht, misstraut dem internationalen Austausch, dem offenen und neugierigen Geist. Darum ist es so wichtig, dass wir genau dieses hochhalten, dass wir davon sprechen, dass es viele hören: Hier ist Kooperation. Hier ist Zukunftsorientierung und forschende Neugier. Hier ist Menschenwürde und Glaube an das Gute im Menschen. Hier ist Weltschule für Humanismus! Hier, auf dem «Höögel», in Dornach, im Kanton Solothurn.