Interview: Altersarmut in der Schweiz
Für eine Maturaarbeit an der Kantonsschule Wohlen zum Thema Altersarmut durfte ich in einem Interview Auskunft geben. Meine Lösungsansätze zu diesem wichtigen Problem gibts hier zum Nachlesen.
- Jan Stössel: Was ist Ihre Meinung zur Altersarmut in der Schweiz?
Felix Wettstein: Altersarmut ist in der Schweiz leider nicht überwunden. Sie ist bei den Menschen über 65 Jahren rund doppelt so häufig wie bei den Jüngeren. Zwar sind 5 von 6 Menschen im Alter nicht arm, aber das bedeutet eben doch, dass jede und jeder Sechste von Armut betroffen ist. Und es betrifft nicht alle gleich: Unter den allein lebenden Alten ist rund jede Vierte arm, bei den Paarhaushalten etwa jeder Achte. Arme Alte hatten oft keine gute Schulbildung, sie waren vielleicht nicht lange berufstätig oder längere Zeit arbeitslos. Das schlägt im Alter durch. Es sind mehr Ausländer*innen als Schweizer*innen betroffen, aber es ist nicht wegen der Nationalität. Menschen mit geringer Bildung und längerer Arbeitslosigkeit, egal ob Schweizer*innen oder Zugezogene, sind etwa gleich oft betroffen. Arg trifft es jene, die sich kurz vor dem Rentenalter scheiden – mehrheitlich die Frauen.
Vor allem aber: Wir in der Deutschschweiz haben ein falsches Bild von der Altersarmut. Bei uns sehen wir sie kaum. Das Tessin und die französische Schweiz sind viel stärker betroffen!
- JS: Altersarmut hat viele, meist unterschiedliche Ursachen. Haben aus Ihrer Sicht nichtsdestotrotz die Betroffenen ihre Situation teilweise oder ganz selbstverschuldet?
FW: Nein, das haben sie nicht. Es gibt viel mehr arme Menschen, die aus Scham darauf verzichten, die ihnen zustehende Unterstützung einzufordern (z.B. Ergänzungsleistungen, Prämienverbilligungen), als dass es solche gibt, die ihr Geld unvorsichtig «verprassen». Hinzu kommt: Im Vergleich zu anderen Ländern müssen wir in der Schweiz einiges an die Kosten der Krankheitsbehandlung selbst bezahlen: Zahnbehandlungen fast vollständig, bei Krankheiten den Selbstbehalt und die Franchise. Aus Angst, dass es kosten könnte und ihr knappes Geld nicht reicht, gehen ein Teil der Armutsbetroffenen nicht in Behandlung, obwohl sie krank sind.
- JS: Gemäss Bundesverfassung ist die Aufgabe der AHV die Existenzsicherung von Pensionierten. Trotzdem lag die Armutsquote der über 65-Jährigen im Jahre 2020 bei 16.2%[1]. Inwiefern hat der Sozialstaat Schweiz versagt, wenn es zur Altersarmut kommt?
FW: Es ist effektiv so, dass unsere Sozialversicherungswerke nicht ausreichen. Oft kommen die Menschen vor der Pensionierung einigermassen gut über die Runden, aber danach reicht es nicht mehr. Wie es die Frage anspricht: Die AHV erfüllt ihr Ziel der Existenzsicherung nicht, obwohl das in der Verfassung steht. Zwar gibt es die Ergänzungsleistungen, und das ist gut. Aber zuerst muss jemand fast sein ganzes Vermögen aufzehren, und auch danach muss sie/er die Lebensverhältnisse vollständig ausbreiten, damit sie/er EL bekommt. Das erleben viele als entwürdigend.
Was oft vergessen geht: Während der Zeit der Berufstätigkeit hat man bei den Steuern einige Abzugsmöglichkeiten, z.B. für Arbeitsweg, Berufskosten usw. Diese Abzugsmöglichkeiten fallen nach der Pensionierung weg. Mit gleich viel Einkommen muss man plötzlich mehr Steuern zahlen. Man muss auch die Unfallversicherung selber zahlen, die zuvor vom Betrieb bezahlt wurde.
- JS: Welche Massnahmen braucht die Schweiz Ihrer Meinung nach zur Bekämpfung der Altersarmut der aktuell Betroffenen?
FW: Dringend ist die Anpassung der Renten an die Teuerung sowie eine Aufstockung der Gelder für die Prämienverbilligung: Kein Haushalt sollte mehr als 10% des Einkommens für die Krankenkasse bezahlen müssen (heute sind es je nach Kanton bis 16%).
Als nächstes muss die erste Säule, die AHV, gestärkt werden, damit das Verfassungsziel näher rückt. Heute hat die zweite Säule, relativ gesehen, eine zu grosse Bedeutung. Es können aber bekanntlich nicht alle eine 2. Säule aufbauen, darum zementiert dieses System die sozialen Unterschiede oder verstärkt sie sogar noch. Künftig muss auch eine berufliche Vorsorge aufbauen können, wer nur ein kleines Teilpensum hat, wer auf Abruf arbeitet oder mehrere kleine Anstellungen hat. Darum müssen wir das Gesetz über die berufliche Vorsorge dringend ändern.
Im Bereich der Krankenversicherung müssen wir wegkommen vom Kopfprämiensystem und die Prämien nach Vermögen und Einkommen abstufen. Vielverdienende zahlen weltweit wohl nirgendwo so wenig Krankenkassenprämien wie in der Schweiz und kriegen die volle Leistung!
- JS: Wie sollte Ihrer Meinung nach die Prävention der Altersarmut künftiger Generationen aussehen?
FW: Erstens: Investieren in die Bildung. Alle jungen Menschen in der Schweiz sollen mindestens einen Abschluss auf Stufe Sek 2 erreichen (Berufslehre). Für Erwachsene muss es Nachholbildungen geben: öffentlich finanziert.
Zweitens: Bessere Vereinbarkeit von Beruf und ausserberuflichen, nicht entlöhnten Aufgaben. Das sind v.a. Familienaufgaben, aber nicht nur. Damit für Familien diese Vereinbarkeit aufgeht, braucht es bezahlbare Kita-Plätze. Für jene, die Angehörige pflegen, braucht es Entlastungsdienste. Das könnte über eine Erbschaftssteuer finanziert werden: die fairste aller Steuern.
Drittens wirken die Massnahmen, die ich bei der vorherigen Frage angesprochen habe, auch präventiv bezogen auf künftige Generationen.
- JS: Sprechen Sie sich für eine längere Erwerbstätigkeit im Alter aus?
FW: Nein. Wer 44 Jahre gearbeitet hat und/oder Betreuungsaufgaben wahrgenommen hat, soll sich zur Ruhe setzen dürfen und hat Anrecht auf die volle Rente.
- JS: Befürworten Sie eine Förderung der individuellen Verantwortung für die Altersvorsorge künftiger Generationen?
FW: Es gibt die individuelle Verantwortung ja schon lange. Sie einzufordern (oft mit einem moralischen Unterton) und gleichzeitig zu den strukturellen Verbesserungen nein zu sagen wirkt auf mich arrogant. Selbstverantwortung ist nicht voraussetzungslos: Sie trägt sich leichter, wenn ich weiss, dass ich für morgen und übermorgen keine existenziellen Sorgen habe.
Wir brauchen nicht «mehr individuelle Verantwortung» im Sinne von «Vogel friss oder stirb», wir brauchen mehr Solidarität zwischen den Generationen. Unser Land kann sich das leisten.
[1] Bundesamt für Statistik. (2022). Armutsquote, nach verschiedenen Merkmalen. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/wirtschaftliche-soziale-situation-bevoelkerung/soziale-situation-wohlbefinden-und-armut/armut-und-materielle-entbehrungen/armut.assetdetail.21084133.html (Abruf 26.06.2022)