Am 12. September 1848 wurde die erste Bundesverfassung beschlossen. Darum feierten wir an diesem Termin in und vor dem Bundeshaus den 175. Geburtstag der Schweiz. Vor dem Mittag waren für rund 90 Minuten nicht nur alle National- und Ständeräte im Parlamentsaal versammelt, auch der Bundesrat war in Corpore dabei, auf den Tribünen zudem das Präsidium des Bundesgerichts sowie von allen Kantonen die derzeitigen Regierungspräsidentinnen und -vizepräsidenten, begleitet von Weibeln in kantonsfarbenen Ornaten. Am Abend dann, um 18:48 Uhr, waren wir draussen auf dem Bundesplatz versammelt, als oben im Giebel des Palais Fédéral das neue Kunstwerk zu Ehren von Tilo Frey enthüllt wurde. Sie war 1971 eine der ersten gewählten Nationalrätinnen.

Mir gefällt das neue, wohltuend zurückhaltende Kunstwerk. Es besteht aus Drei-, Vier- oder Fünfecken: Platten mit Rippen in wechselnder Ausrichtung, was je nach Lichteinfall unterschiedliche Effekte auslöst. Es sind 246 Elemente, also eines pro National- und pro Ständerat. Ich habe für mich entschieden, welches Puzzleteil für mich steht…

Der Festakt mit allen Beteiligten in Amt und Würden hat von zwei Seiten Kritik ausgelöst. Bei den musikalischen und gesanglichen Beiträgen waren starke Frauenstimmen stark vertreten, nicht jedoch bei den Reden: Diese waren mit Ausnahme der aktuellen Ständeratspräsidentin fest in Männerhand. Andere haben sich am Klamauk des Comikerduos Greg und Oli oder aber über den «ultralinken» Kabarettisten Joachim Rittmeyer aufgeregt. Nach meinem Urteil war Rittmeyer genial, wie immer.

Verständlich, dass in den Reden und im Rückblick auf 1848 die Schweizer Werte und Besonderheiten besonders betont wurden: Der Föderalismus, die Subsidiarität, die Mehrsprachigkeit, die direktdemokratischen Volksrechte (wobei diese erst später reif wurden: 1874 das Referendum und 1891 die Volksinitiative), die Neutralität – ohne sich auf die Äste herauszulassen, welche gemeint sei. Ebenfalls als Werte unseres Landes wurden die Gewaltenteilung und das juristische Prinzip der Verhältnismässigkeit genannt. Diese allerdings weit zurückhaltender, sie sind ja auch für viele etwas schwierig nachzuvollziehen. Umso gefährlicher, wenn sie in Zweifel gezogen werden.

Persönlich hätte ich mir gewünscht, dass jemand einen Blick in die Zukunft wagt, zum Beispiel um 25 Jahre voraus, einen Blick auf das Jahr 2048: 500 Jahre Westfälischer Frieden (mit erster Garantie für den damaligen Staatenbund) und 200 Jahre Schweiz. Dieses Element hat allerdings während der Feier am 12. September gefehlt.

In die Lücke getreten ist die Online-Zeitschrift Republik. Sie hat am selben Tag den Artikel https://www.republik.ch/2023/09/12/175-jahre-bundesverfassung-wir-schreiben-die-verfassung-neu veröffentlicht. Die 10 Vorschläge für eine bessere Schweizer Demokratie sind echt gut und diskussionswürdig!