Kürzlich fiel in einem Gespräch unter Freunden der Satz «Mir macht eine 10-Millionen-Schweiz Angst». Ich stutze, höre in mich selbst hinein und stelle fest: Es macht mir nicht Angst. Bin ich also unsensibel oder uneinsichtig, obwohl ich als reflektierter Mensch eigentlich sensibel sein müsste?

Es gibt offensichtlich viele Bedenken gegenüber Zuwanderung und Bevölkerungswachstum. Das fällt mir natürlich auf, und ich mache mir viele Gedanken dazu. Trotzdem verspüre ich keine persönliche Bedrohung. Oft zweifle ich auch, ob jene, die vor der Zuwanderung warnen, tatsächlich selber etwas dagegen haben. Im Fall der grössten hiesigen Partei ist jedenfalls offensichtlich, dass es ihr mehr als willkommen ist, wenn sich dieses Thema nicht erledigt. Es hilft ihr, diverse mögliche Ängste zu «bewirtschaften».

Meine erste Hoffnung und Zuversicht ist: Wir schaffen es, in Ruhe und differenziert dieses Thema zu diskutieren und unsere Schlüsse zu ziehen. Dazu schlage ich vier Schritte vor. Schritt 1: Bevölkerungswachstum ist nicht mit Zuwanderung gleichzusetzen. Schritt 2: Einwanderung in die Schweiz hat zwei völlig unterschiedliche Auslöser: einerseits Flucht, andererseits Sog. Schritt 3: Zuwanderung ist nicht eine Ursache, die uns zum Handeln zwingt. Zuwanderung ist eine logische Folge von vielen Mehrheitsentscheidungen. Schritt 4: Wenn wir weniger (Zu-)Wanderung wollen, müssen wir den Mut haben, gewisse Maximen über Bord zu werfen.

Bevölkerungswachstum ist nicht mit Zuwanderung gleichzusetzen

Die Bevölkerungszahl der Schweiz wächst, und zwar recht rasant. Das Bundesamt für Statistik macht jeweils drei Prognosen: tief-mittel-hoch. In den letzten Jahren war unser Land meistens nah am Szenario «hoch». Ein Grund für die Zunahme der Anzahl Menschen geht oft vergessen: Wir werden älter! Nach nur gerade vier bis fünf Jahren ist die Lebenserwartung wieder ein Jahr mehr. Wir haben zwar eine tiefe Kinderzahl, aber die steigende Lebenserwartung wirkt sich stärker aus. Auch ohne Migration führt das zu Bevölkerungswachstum.

Zuwanderung ist nicht gleich Zuwanderung

Es ist eigentlich eine Binsenweisheit, dass wir sauber unterscheiden sollten zwischen zwei völlig unterschiedlichen Vorgängen: Flucht/Asyl einerseits, Arbeitsimmigration andererseits. Aber leider werden diese Dinge oft vermischt. Es werden Bilder von Immigrierten – zum Beispiel aus Afghanistan oder Syrien – eingesetzt, um die grosse Zahl der Zugewanderten zu beklagen. Dabei sind jene, die als Geflüchtete und Asylsuchende in die Schweiz kommen, viel weniger zahlreich als jene, die in die Schweiz kommen und eine Arbeitsstelle antreten. Von ersteren können viele keinen anerkannten Asylgrund geltend machen und müssen darum die Schweiz bald wieder verlassen.

Länger oder für immer bleiben jene, die aus EU- und EFTA-Staaten stammen und dank der Personenfreizügigkeit in unser Land kommen, weil sie hier in ganz vielen Branchen dringend gebraucht werden und weil sie auch die Familien zusammenführen dürfen. Zum Glück ist das so! Das mit der Personenfreizügigkeit ist schliesslich gegenseitig: Mehr als 800’000 Menschen mit Schweizer Pass leben ausserhalb der Schweiz. Diese Zahl hat sich in relativ kurzer Zeit verdoppelt. Ich kann darin kein Problem erkennen.

Ursache und Wirkung

Entscheidend dünkt mich, dass wir Ursache und Wirkung nicht verwechseln und dass wir die Ursachen richtig benennen. Es ist unsere auf Wachstum getriebene Wirtschaft und Gesellschaft, welche am Anfang steht. Mit unserer Raumplanungspolitik und Arbeitsmarktpolitik wollen wir viele Firmen, aber auch wohlhabende Privatpersonen anziehen. Jede Gemeinde will auf diese Weise wachsen, jeder Kanton auch. Zusätzlich winken Steuererleichterungen auf alle erdenkliche Weise. Die Schweiz ist äusserst erfolgreich darin. Die Ansiedlungen gelingen, und das vergrössert das Arbeitsvolumen, es kurbelt die Möglichkeiten an, noch mehr für den Weltmarkt zu produzieren. Wir sind eine Grossmacht, was z.B. den Handel mit Rohstoffen betrifft. Gleiches sind wir auch für Online-Riesen, und im Bereich Finanzdienstleistungen sowieso.

Ich sehe natürlich auch, dass eine schnell wachsende Gesellschaft vor grossen Herausforderungen steht: Gibt es genügend Wohnraum? Wie vermeiden wir weitere Zersiedlung? Reichen unsere Infrastrukturen aus, namentlich für den wachsenden Verkehr auf Strasse und Schiene? Mag die Schule Schritt halten? Das Gesundheitswesen? Die Energieversorgung? Die Polizei und Notfalldienste? Können wir die Menschen noch ernähren, möglichst einheimisch und gesund?  

Es gibt Alternativen – wer hat den Mut?

Ganz offensichtlich können wir nur Gegensteuer geben, wenn wir uns vom Wachstumswahn verabschieden. Und vermutlich müssen wir uns auch vom Perfektionsanspruch verabschieden. Ich gebe zu, dass ich mich gerade mit letzterem selber auch schwer tue. Aber wenn wir zum Schluss kommen, dass die Bevölkerungszunahme nicht im gleichen Tempo weitergehen sollte wie in jüngerer Zeit, dann gäbe es ein paar Ansätze:

  • Abschaffung von Steuerprivilegien und Erhöhung der Gewinnsteuern sowie der Besteuerung von Dividenden, von Geld-Transaktionen aller Art;
  • Restriktive Raumplanung und Siedlungspolitik, Stopp dem Flächenverbrauch auf bisherigem Landwirtschaftsgebiet;
  • Verzicht auf Wachstumsziele. Stabilitätsziele oder «Balance-Ziele» auch für die Banken inkl. SNB, auch für Versicherungen, auch für güterproduzierende Firmen.
  • Weniger arbeiten. Geringerer Gesamt-Arbeitsvorrat, parallel natürlich auch geringere Gesamtlohnsumme. Die Reduktion zur Lohnangleichung nutzen.
  • Mehr Aufgabenwahrnehmung ohne monetäre Entlöhnung, das heisst mehr Tauscharbeit, mehr Eigen- und Betreuungsarbeit. Unter Beteiligung aller.
  • Auf dem Weg zur Perfektion mit 80 Prozent zufrieden sein. Ok, hie und da mit 85 Prozent. Mit Unvollkommenheit gelassen umgehen können. Ja, auch beim Putzen, beim Strassenbau, beim Verkehrsmanagement, beim Unterrichten, bei der Pflege, bei der Überwachung.

Es braucht sehr viel Mut für diese sechs Entwicklungen. Sie hätten unter anderem eine dämpfende Wirkung auf die Arbeitsimmigration. Die Schweiz würde bevölkerungsmässig langsamer wachsen.