Was hätten die GRÜNEN anders machen müssen?
Schweizweit haben wir GRÜNEN um 3.4 Prozent schlechter abgeschnitten als vor vier Jahren. Worauf ist dieser Rückgang zurückzuführen? Wir haben in der nationalen Fraktion und in der schweizerischen Partei mit dieser Analyse bereits begonnen und führen die Diskussion sehr ernst und sehr intensiv. Haben wir auf die falschen Themen gesetzt? Haben wir in der jüngeren Vergangenheit Dinge vertreten, die uns Stimmen gekostet haben? Sind die falschen Leute am Ruder? Waren es Einflüsse von aussen, denen wir machtlos ausgeliefert waren und die wir nicht hätten ändern können? Von allem etwas?
Diese Diskussion ist kontrovers: Wir kommen nicht alle zu den gleichen Schlussfolgerungen. Das müssen wir aushalten, ich jedenfalls halte es gut aus. Ich stelle folgendes in den Raum: a) Es gab für den Wahlkampf 2023 kein Topthema; b) Es gibt unter den Erklärungen, warum die GRÜNEN Federn lassen mussten, überschätzte und unterschätzte Zusammenhänge.
Ein prägendes Grundgefühl
Zum «Topthema» dieser Wahlen: Nein, es war nicht die Zuwanderung. Auch nicht die Kaufkraft. Auch nicht die Gesundheitskosten. Auch nicht das Klima. Wir werden mit einiger Zeit Abstand im Rückblick sehen: Es gab kein Topthema. Zwar war die Klimakrise im Sorgenbarometer der Bevölkerung im Frühling und im Sommer an oberster Stelle. Im Herbst wurde sie durch die Kostenentwicklung der Krankenkassenprämien abgelöst und blieb auf Platz zwei. Aber beide Themen haben die Wahlen nicht wirklich geprägt. Die spätere Siegerpartei dieser Wahlen gab sich zwar alle Mühe, die Zuwanderung und eine überfüllte Schweiz zum Topthema zu machen. Sie hat es geschafft, die Redaktionen vieler Medien damit einzulullen. Aber zum Topthema wurde es nicht, wir erleben aktuell auch gar nicht eine überhöhte Zuwanderung. Es gab und gibt – so meine Analyse – viel eher ein prägendes Grundgefühl: «Die Welt ist aus den Fugen, wir schlittern von einer Krise in die nächste, diese Krisen sind weltweit und übersteigen unseren Einfluss. Also halte ich mich an dem fest, was (vielleicht) noch Halt verspricht.» Das hat auch gewisse Leute an die Urne gebracht, die vor vier Jahren fernblieben. Diesmal blieben andere fern: Dazu später.
Das falsche Thema?
Wir GRÜNEN hatten vor vielen Monaten entschieden, auf den Slogan «Unser Klima – Deine Wahl» zu setzen und die grafischen Botschaften ganz darauf auszurichten. Die Bedeutung des Klimathemas auf dem Sorgenbarometer und die kräftige Mobilisierung am 30. September (60’000 Menschen an der Klimademo in Bern) bestätigten diesen Entscheid. Die drohende Klimakrise ist nicht wegzuleugnen. Trotzdem mobilisierte es für diese Wahlen weit weniger als 2019. Wie kann das sein? Das Ziel «Netto Null bis spätestens 2050» ist inzwischen beschlossen. Ein Leidensdruck ist für viele nicht direkt spürbar. Die Massnahmen jedoch, die es zur Zielerreichung braucht, sind den meisten Menschen irgendwie unangenehm. Sie gelten auch als teuer, obwohl Nichtstun langfristig mit Sicherheit die teuerste Variante sein wird. Man projiziert dieses Unwohlsein dann gerne auf die fordernden GRÜNEN.
«Aber die Klimakleber haben euch geschadet», ist oft zu hören. Ich komme zum Schluss, dass dieser Einfluss gehörig überschätzt wird. Jene, die dieses Argument vorbringen, haben uns auch bisher nicht gewählt. Ihr Ärger über die illegalen Aktionen (von denen wir GRÜNEN uns immer distanziert haben) diente ihnen zur Abgrenzung und als Legitimation, dass sie für sich weiterhin keine Prioritäten im Bereich Klimaschutz und CO2-Reduktion akzeptieren – schon gar nicht Verhaltensänderungen.
Obwohl die grafische Kampagne der GRÜNEN auf das Klima ausgerichtet war, hatten wir in der Wahlkampfzeit diverse weitere Themenschwerpunkte: insbesondere Gleichstellung, bedrohte Menschenrechte, Verringerung sozialer Ungleichheiten, Gesundheitsreformen, Biodiversität, Kreislaufwirtschaft oder Bankenreform. Wir hatten jedoch weder «Woke-Kultur» noch Gendersternchen zu politischen Themen erhoben, das haben uns andere angedichtet. Zur Thematik Schweiz-EU haben wir uns oft geäussert, weil dieses ungeklärte Dossier nach Klärung ruft. Fairerweise ist anzufügen, dass wir innerhalb der Partei noch keine gefestigte Antwort auf das «Wohin» haben.
Die falschen Antworten?
Hat uns der Putin-Krieg in der Ukraine geschadet? Auch dieses Thema taugt aus meiner Sicht kaum zur Erklärung von grossen Verschiebungen des Wahlverhaltens. Eine Zeitlang, im Frühling dieses Jahres, versteifte sich die helvetische Diskussion auf die Frage, ob es zulässig sei, dass Schweizer Waffen ins Kriegsgebiet (weiter-)geliefert werden. Die meisten Parteien machten es sich in dieser Frage nicht einfach, die Trennlinie zog sich quer durch die Parteien, auch bei uns. Wir GRÜNEN liessen jedoch nie einen Zweifel aufkommen, dass es in diesem von Putin lancierten menschen- und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg keine (Gesinnungs-)Neutralität geben kann, sondern dass klar ist, wem unsere Solidarität gehört: der Ukraine. Diese Solidarität könnte und müsste die Schweiz viel entschlossener als bisher unter Beweis stellen (Finanzierung dieses Krieges stoppen, Rohstoffhandel unterbinden, humanitäre Hilfe ausbauen usw.). Davon wurde kaum berichtet, und ein Teil unserer Sympathisierenden kannten nur die Interpretation «Wer keine Waffen liefert ist unsolidarisch.»
Die penetranten Erzieher*innen?
Wir GRÜNEN müssen uns immer mal anhören, wir seien eine Verbotspartei. Nüchtern betrachtet sind andere mit ihren Verbotsforderungen politisch viel erfolgreicher (Ich erinnere an Minarettverbot, Burkaverbot, Vermummungsverbot, Aufenthaltsverbot, Gendersternverbot). Gerade wenn ich mich mit den jungen und sehr jungen Kolleginnen und Kollegen in unserer Partei austausche, erlebe ich derart viel Lust auf ein gutes Leben, auf Lebensfreude, dass mir scheint: Wir sind die Ermöglichungspartei!
Aber eben, Bevormundung und Verzicht werden gerne bemüht, um sich von uns abzugrenzen. «Die Grünen haben sich mit ihrem Erziehungsgehabe selber ins Knie geschossen» las ich kürzlich. Passend dazu eine andere Aussage aus den Wahlanalysen: Parteien, die den Bürgerinnen und Bürgern etwas abverlangen, hatten einen schweren Stand. Ob Verzicht, Leistung oder Eigenverantwortung: Das klingt anstrengend. Dafür haben zurzeit viele Menschen keine Energie. Weniger anstrengend ist es, sich an jene anzulehnen, die Geborgenheit und Sicherheit versprechen. Das hat wohl einiges an sich. Zu unserem «Erziehungsgehabe» möchte ich allerdings nachschieben, dass wir das vor vier Jahren auch schon vorzuweisen hatten (😊).
Doch ein unterschätzter Einfluss?
Unterschätzt wird in den Erklärungen zu den Wahlverschiebungen – Corona! Die Pandemiezeit hat zwischen jene, die zuvor gemeinsam für die Anliegen der GRÜNEN eintraten, tiefe Gräben gerissen. Diese sind noch nicht verheilt. Viele von uns sind seit jeher skeptisch gegenüber einer Technologiegläubigkeit mit grossen Verheissungen. Wir sind sensibel für die Kehrseiten, d.h. für mögliche negative Einflüsse auf Mensch und Umwelt. Wir sind auch skeptisch, wenn eine «starke Hand» alles übernimmt. Das dünkt mich gut, es schützt vor Faschismus-Tendenzen. Uneinig waren wir uns in der Einschätzung, ob die staatlichen Massnahmen während der Pandemiezeit (Testen, Zugangs- oder Versammlungsbeschränkungen, später Impfen und Impfnachweis) die richtigen sind. Die Mehrheit unserer Partei hat die Massnahmen mitgetragen, und sie trägt heute auch eine kritische Aufarbeitung mit. Eine veritable Minderheit hat die Massnahmen jedoch als untauglich oder schädlich abgelehnt. Für etliche von ihnen hat das Thema eine derartige Dominanz angenommen, dass sie gegenüber der Restwelt auf Distanz gingen, auch gegenüber ihrer bisherigen Favoritenpartei. Sie sind diesmal vermutlich mehrheitlich gar nicht wählen gegangen, oder sie haben sogar (wo die Möglichkeit bestand, wie in unserem Kanton) zu «Mass-voll» gegriffen. Meine Deutung: Wenn für jemanden ein einziges öffentliches Thema derart ins Zentrum rückt, dass sich alles darum dreht (alles Denken, alles Debattieren, alles Recherchieren), dann ist eine verständnisvolle «starke Hand» plötzlich hochwillkommen: paradoxerweise gerade für jene, die obrigkeitskritisch sind.
Mein Fazit: Ja, wir haben einen Teil Wählerinnen und Wähler verloren, der uns früher wohlgesinnt war. Es war unmöglich, es ihnen recht zu machen, sonst hätten sich sehr viele andere abgewandt. Wir haben weder bei den Themenschwerpunkten noch bei den Kampagnenmitteln grundlegende Fehler gemacht, und das Personal war so gut wie noch nie. Wir müssen in Zukunft dem Thema «wachsender Gegensatz zwischen urban und ländlich» viel Aufmerksamkeit widmen. Es ist kein Schlagzeilenthema, aber eines, das für unser Land zur grossen Herausforderung geworden ist.
Auch mit meiner Analyse der Wahl-Verschiebungen werden nicht alle einverstanden sein: Ich freue mich über Zuschriften, und danke für jene, die ich bereits bekommen habe!