Liebe Gemeinde Dornach, liebe Festgemeinde

Als Thema für meine heutige Festansprache habe ich «Sorg ha» gewählt.

Vor ein paar Tagen konnte man in den elektronischen Zeitungen und am Fernseher Bilder sehen, die mich erschreckt und irritiert haben. Vielleicht haben Sie sie auch gesehen. In Bern an der Aare, unterhalb des Marzili-Bades, dort, wo die Fahrt mit dem Gummiboot von Thun bis Bern zu Ende geht, lag ein riesiger Haufen Gummiboote quer übereinander. Einfach liegen lassen, zuerst noch etwas aufschlitzen, damit die Luft entweicht, und dann ab auf den Haufen, die Paddel und die Schwimmwesten gleich hintendrein. Nach einer einzigen Flussfahrt auf der Aare. Irgendjemand wird es dann schon beseitigen. Die Gummiboote sind selbstverständlich für mehr als für eine Fahrt konstruiert, aber das wäre den Aareböötlern dann doch zu viel Aufwand: Alles zuerst wieder richtig zusammenlegen, zu verpacken und hochzutragen bis zur nächsten Bus- oder Tramhaltestelle und mit nach Hause nehmen, damit man es ein nächstes Mal wieder hervorholen kann.

In diesen Medienberichten ist der Strassenmeister der Stadt Bern zu Wort gekommen, Andreas Niklaus. Es sei ja kein neues Phänomen, sagte er, aber in diesem Jahr sei es extrem. Alles am Schluss kaputtmachen und liegen lassen, das sei der Wahnsinn. Die Stadt Bern habe darum mehrere grosse Container mit 800 Litern Fassungsvermögen aufgestellt. Und dennoch lande viel Abfall daneben. Man müsste die Boote eben doch zuerst sorgfältig zusammenlegen, bevor man sie entsorgt. Wenn sich bloss 2-3 nicht daran halten, dann ist der Container im Nu überfüllt. Darum versucht es die Stadt Bern jetzt mit Personal vor Ort, das den Leuten erklärt und zeigt, wie sie richtig entsorgen sollen.

Auch diese Information hinterlässt bei mir einen schalen Beigeschmack. Die Gemeinde muss ein Wochenende lang – heute sogar ein verlängertes Wochenende – Mitarbeiterinne und Mitarbeiter aufbieten, die den Leuten etwas selbstverständliches beibringen sollen. An der Wegwerfmentalität ändert sich aber nichts. Ein solches Gummiboot ist zu billig, man scheut den Transportaufwand, darum kauft man fürs nächste Mal Aareböötle ein neues. Und dann entsorgen!

Vor Jahren sang Dodo Hug in einem Lied: «Entsorge heisst das Zauberwort, entsorge!» Diese Sorge wollen wir los haben. Aus den Augen aus dem Sinn. Ich empfinde eine solche Einstellung abstossend. Abstossend ist durchaus wörtlich zu verstehen.

Das Gegenteil dieser Haltung wäre also: «sorgen», Sorge tragen, «Sorg ha». Dieses Thema stelle ich zum heutigen Nationalfeiertag ins Zentrum. Mich nimmt Wunder, wie wir es hinkriegen, dass «Sorg ha» wieder einen höheren Stellenwert bekommt: Sorge tragen zu den Sachen, aber auch Sorge tragen zu den Menschen. Und mich nimmt Wunder, was das mit Heimat zu tun hat.

Einen Tag nach diesen verstörenden Bildern der Gummiboothalde bin ich in unserem Wochenanzeiger auf eine andere Geschichte gestossen: Ein Interview mit dem SAC-Präsidenten Stefan Goerre. Der SAC hat zurzeit eine spezielle Sorge. An verschiedenen Orten musste man SAC-Hütten vorsorglich schliessen, weil der Untergrund instabil geworden war. An anderen Orten könnte es auch noch nötig werden, oder es droht Steinschlag, oder Wasserknappheit. Die Auswirkungen des Klimawandels sind für die Berggängerinnen und Berggänger unmittelbar zu erleben. Der SAC-Zentralverband wurde darum aktiv. Als nationaler Verband will er bereits bis 2030 klimaneutral sein, die 111 Sektionen sollen es bis spätestens 2040 auch werden. Dazu hat der Verband eine sehr detaillierte Strategie mit konkreten Absenkpfaden erarbeitet. Wie geht das? Eines der wichtigsten Stichworte heisst: Weniger Helikopterflüge. Das erreicht der Alpenclub nur dann, wenn in den Hütten gewisse Dinge angepasst werden: Nicht mehr unbeschränkt viel Bier, Cola, Rivella und Mineralwasser aus Flaschen, sondern eben wie früher: Tee, Sirup und Quellwasser. Einzelne SAC-Sektionen beginnen sogar wieder damit, ihre Hütten mit Maultieren zu versorgen.
«Versorgen», da haben wir es wieder. Tee und Sirup trinken, mit dem Maulesel den Hüttennachschub sicherstellen: Das ist nicht einfach Romantik und Nostalgie, das ist gelebter Ausdruck von «Sorg ha».

Ich bin überzeugt, dass wir in unserem Alltag viele derartiger Gelegenheiten haben, wie wir mehr Sorge an den Tag legen können. «Sich Sorgen machen» ist ja für viele von uns zuerst einmal ein ungutes Gefühl. «Hast du Sorgen?» fragen wir unsere Nachbarn und Freundinnen und geben damit zum Ausdruck: «Ich wünsche dir, dass du dir nicht zu viel Sorgen machen musst». Aber auf den zweiten Blick fällt uns vielleicht auf, dass eigentlich viel Gutes daran liegt, wenn uns etwas Sorge macht. Es ist ein Zeichen dafür, dass uns diese Sache oder diese Menschen nicht gleichgültig sind. Jede Sorge weisst auf etwas hin, was tatsächlich nicht rund läuft und daher unsere besondere Aufmerksamkeit verdient. Darum plädiere ich dafür, dass wir eben mehr «Sorg händ».

Sich Sorgen machen kann lähmen, das stimmt. Es kann lähmen, wenn wir vor lauter Sorge über die Weltentwicklung keine wirklich tauglichen Antworten finden, wie wir das ja aktuell erleben. Es kann lähmen, wenn wir das Gefühl bekommen, dass alles, was wir tun, eigentlich nicht mehr als ein Tropfen auf einen heissen Stein ist. Im heurigen heissen Summer verdunstet dieser Tropfen sowieso sofort. Das lässt uns grundsätzlich zweifeln, manchmal schier verzweifeln.

Allerdings liegen die beiden Dinge eben sehr nahe beisammen: Das «sich Sorge machen» einerseits, zu etwas Sorge tragen, «Sorg ha» andererseits. Für das Zweite gibt es ein englisches Wort, das wir in letzter Zeit immer mehr auch bei uns hören: Es heisst «care». Wir reden von den Care-Tätigkeiten, die immer noch zu einem bedeutenden Teil familiär oder ehrenamtlich erbracht werden, in der Schweiz etwa zu zwei Dritteln von Frauen und zu einem Drittel von Männern. Wir reden von Care-Berufen, also von beruflichen, bezahlten Tätigkeiten, bei denen das Sorgen für andere die Hauptaufgabe ist – ebenfalls mehrheitlich in Frauenhand. Wir fordern, dass Care-Arbeit genug Wertschätzung erfährt, sowohl jene, die in den Familien oder ehrenamtlich geleistet wird, als auch jene, die beruflich geleistet wird. Das sind sehr berechtigte Forderungen.

Ich möchte den Bogen noch weiter spannen. Zunächst denken wir ja in aller Regel, dass es eine Aufgabe oder ein Anspruch an jede Einzelne, jeden Einzelnen von uns ist, dass wir uns kümmern und dass wir den Dingen Sorge tragen. Das ist sicher richtig. Aber es kann nicht nur den Einzelpersonen angehängt werden. Wir müssen auch als Gemeinde, als Region, als Nation, als Weltgemeinschaft «Sorg ha». Dafür müssen wir die richtigen gesetzlichen Grundlagen schaffen und gemeinsame Abkommen beschliessen, dafür müssen wir Geld und Wissen einsetzen. «Sorge tragen» ist in diesem Sinn das Gegenteil von Egoismus, es ist das Gegenteil einer falsch verstandenen Autonomie und Selbstbestimmung.

Klar fällt es uns am einfachsten, Sorge für jene Dinge aufzubringen, die uns am nächsten und am vertrautesten sind: Die eigene Familie und Verwandtschaft, das eigene Haus oder andere Dinge, die wir besitzen, das eigene Quartier und die eigene Gemeinde. Aber gerade hier in Dornach ist es ja offensichtlich, dass wir unser «Sorg ha» auch auf Arlesheim, auf Reinach oder Aesch ausweiten sollen, so eng verflochten wie wir sind: Auch wenn eine Kantonsgrenze dazwischen liegt. Und manchmal reicht unser «Sorg ha» noch etwas weiter. Wenn wir zum Gempenplateau hochsteigen können wir es fast mit Händen greifen: Es erstreckt sich dann aufs ganze Dorneck, ins Baselbiet, nach Basel, ins Sundgau oder ins Badische hinüber. Wenn wir auf diese Art wahr-nehmen, was unsere Sorge verdient, dann, liebe Festgemeinde, dann nehmen wir Heimat wahr. 

Und wenn wir nicht nur zu den Dingen Sorge tragen, zur Umwelt, zum Wasser, zum knappen Boden, zur Luft, zu den Lebensmitteln, zu den Gummibooten, sondern wenn wir auch und am allermeisten zu den Menschen «Sorg händ», zu jenen, die heute da sind, und zu allen anderen, dann erleben wir den eigentlichen Sinn des 1. August.

Ich wünsche Ihnen allen weiterhin eine sorgsame, fröhliche Feier.