Der Nationalrat hat als Erstrat die Ernährungsinitiative beraten. Sie hat nur wenig Zuspruch erfahren; niemand hat sich für eine Annahme eingesetzt. Die Schlussabstimmung steht noch aus. Mit einem direkten Gegenvorschlag (siehe S. 6) versuchten meine Fraktionskolleginnen in der vorberatenden Kommission, das berechtigte Anliegen in verfassungsgerechter Weise aufzunehmen. Dieser Gegenvorschlag unterlag jedoch um 121:73. Nachfolgend ein Einblick in die Debatte.

Von bürgerlicher Seite wurde immer wieder betont «Ich lasse mir nicht vorschreiben, was auf den Teller kommt» (interessanterweise am lautesten von jenen, die sich vermutlich die Mahlzeiten nur selten zubereiten) oder «Auf dem Teller hat der Staat nichts zu suchen». Die Sehnsucht ist sehr verbreitet, wonach Ernährung Privatsache sein müsse. Aber Ernährung ist politisch. Das zeigt schon die Tatsache, dass wir in den letzten rund 10 Jahren über mehrere Volksinitiativen zum Thema der Ernährung oder der Tierhaltung zu entscheiden hatten. Auch wenn sie keine Mehrheiten erreichten, sind sie jeweils Indiz dafür, dass nicht alles «in Butter» ist. Und selbstverständlich ist der Staat heute schon aktiv: Mit seiner Landwirtschaftspolitik funkt er in unsere Teller. Und diverse Belastungen sowie Strukturprobleme rufen nach neuen staatlichen Entscheidungen.

Vergleich mit anderen Volksinitiativen

Es ist gut sieben Jahre her, seit die Stimmbevölkerung am gleichen Wochenende, am 23. September 2018, sowohl über die Initiative zur „Ernährungssouveränität“ als auch über die Fair Food-Initiative von uns GRÜNEN abgestimmt hatten. Die Initiative zur Ernährungssouveränität wollte die Bundespolitik darauf ausrichten, dass es wieder mehr Bauern und Bäuerinnen gibt, dass die Anstellungsbedingungen in der Landwirtschaft besser werden, dass die Nahrungsmittel gentechfrei bleiben, dass die nationalen Standards für die Qualität für Importe gelten müssen und dass höhere Zölle dazu führen, die inländische Produktion konkurrenzfähiger zu machen. Die Fair Food-Initiative stellte ins Zentrum, dass das Nahrungsmittelangebot in der Schweiz hohen ökologischen und sozialen Standards entsprechen soll. Saisonal, regional, ressourcenschonend und fair hergestellt: Der Bund soll gezielt fördern, was diesen Eigenschaften entspricht. Importierte Lebensmittel müssen denselben Kriterien genügen. Und es soll Massnahmen geben gegen die Verschwendung von Nahrungsmitteln. Immerhin 38,7 Prozent hatten die Initiative unterstützt; die vier Kantone GE, VD, NE und JU hätten sie angenommen.

Thematisch in der Nähe angesiedelt waren am 6. Juni 2021 die Abstimmungen über die Pestizidinitiative und über die Trinkwasserinitiative. Beide wurden nach einer heftigen Gegenkampagne deutlich verworfen (und zogen gleich noch die Revision des CO2-Gesetzes in den Abgrund: Das «5x Nein» war an jenem Wochenende wirkungsvoll inszeniert).

Aktuell gesammelt wird für die «Lebensmittelschutz-Initiative» (https://www.lebensmittelschutz.ch/). Der ausführliche Titel verweist auf die wichtigste Stossrichtung: Eidgenössische Volksinitiative «Für gentechnikfreie Lebensmittel». Es geht insbesondere darum, die Verfahren der «neuen» Gentechnik (oft verschleiernd als «neue Züchtungsverfahren» bezeichnet) in der Schweiz zu verhindern. Ich empfehle, sie zu unterschreiben!

Und nun ist also die Beratung der «Ernährungsinitiative» in den Räten. Die Urheberin dieser Initiative ist dieselbe wie jene der 2021 gescheiterten Trinkwasser-Initiative: Franziska Herren aus Wiedlisbach BE (nahe Solothurn). Der offizielle Titel der Initiative lautet «Für eine sichere Ernährung – durch Stärkung einer nachhaltigen inländischen Produktion, mehr pflanzliche Lebensmittel und sauberes Trinkwasser.» Dieser Titel offenbart die Problematik der Vorlage: Sie will zu viel aufs Mal und bietet damit zu viel Angriffsfläche.

Die Ziele im Einzelnen sind vernünftig, die Indikatoren ehrgeizig. Die Ökosysteme, die Biodiversität, die Gewässerqualität (insbesondere Trinkwasser), die Gesamtfläche des Kulturlandes für die Lebensmittelproduktion, die Bodenfruchtbarkeit und das natürliche, samenfeste Saat- und Pflanzgut sollen erhalten werden. Die Höchstwerte der Stickstoff- und Phosphoreinträge, 2008 definiert, aber laufend verfehlt, müssten künftig zwingend eingehalten werden. Dabei soll die Land- und Ernährungswirtschaft auf den Markt ausgerichtet und klimabewusst sein. Die landwirtschaftliche Produktion soll aber auch sozialverträglich gestaltet sein. Alle Subventionen des Bundes und der Kantone, die von ihnen unterstützte Forschung und Ausbildung müssen auf diese Ziele ausgerichtet sein.

Eine Debatte mit blinden Flecken

Am meisten Aufregung löst die Forderung aus, dass die Schweiz innert 10 Jahren einen Netto-Selbstversorgungsgrad von 70 Prozent erreichen müsse. Das ist spannend, weil die Agrarlobby selbst immer wieder damit argumentiert, dass es einen höheren Selbstversorgungsgrad brauche. Neuste Zahlen zeigen, dass dieser Wert sinkt und letztes Jahr nur noch 42% erreichte.

Klar ist, dass die Lebensmittelversorgung der Schweiz nur im internationalen Austausch sichergestellt werden kann. Ich finde, wir sollten dies zunächst als Tatsache akzeptieren. Der Handel geht in beide Richtungen: Wir exportieren viel Käse, einiges an Trockenfleisch und ein paar Flaschen Wein. Wenn umgekehrt der Früchtekonsum steigen soll, was gesundheitlich ein unbestrittenes Ziel ist, dann ist klar, dass ein grosser Teil dieser Früchte importiert werden müssen. Die Qualitäten «ökologisch», «saisonal» und «fair» können und sollen wir auch so anstreben!

Genau 50 Ratskolleginnen und Ratskollegen – ein Viertel des Rats – hatten sich in die Liste der Rednerinnen und Redner eingetragen. Ich war nicht unter ihnen, habe mich aber bemüht, neue Argumente herauszuhören. Die Verteilung nach Fraktionen sagt einiges darüber aus, was die Tonalität der Debatte war. Je 2 Mitglieder der FDP und der GLP, 3 der GRÜNEN, je 6 der SP und der Mitte, 31 Mitglieder der SVP.

Eines der am häufigsten gehörten Worte während der Debatte war «Zwängerei». Es würde ein «Vegizwang» eingeführt. Das ist in dieser schrillen Tonalität unberechtigt. Die landwirtschaftlich nutzbare Fläche der Schweiz ist zu 60-70 Prozent Grasland: Auf diesem Land sollen Kühe, Schafe und Ziegen das Gras verwerten, sie sollen Milch und Milchprodukte liefern, und am Schluss ihres Tierlebens das Fleisch. Es ist daher absolut in Ordnung, diese Produkte zu konsumieren – in einem Ausmass, das zur angemessenen Nutzung des Kulturlands, aber nicht zu seiner Übernutzung führt. Es ist auch in Ordnung, sich für vegetarische oder vegane Ernährung zu entscheiden. Der Staat macht da keine Vorschriften. Und trotz dutzendfacher gegenteiliger Behauptung steht in der Initiative nirgendwo etwas von einem Verbot.

Aber wir müssen die «Aber» ansprechen:

  • Die Landwirtschaftliche Forschung in der Schweiz – vor allem jene von Agroscope und an der Fachhochschule HAFL – gibt für Forschung im Bereich Tierproduktion rund sechsmal soviel aus wie für Entwicklungen im Bereich Nutzpflanzen.
  • Das Ackerland im Mittelland steht unter Druck durch die Ausdehnung der Siedlungs- und Verkehrsflächen. Jedoch: Über 50 Prozent der ackerfähigen Flächen werden heute für die Produktion von Tierfutter verwendet. Wenn an dieser Stelle Weizen, Roggen, Dinkel, Hülsenfrüchte und Beeren angebaut würden, könnten mit denselben Hektaren viel mehr Menschen ernährt werden.
  • Tierdünger düngt auch Ackerflächen, das ist korrekt. In einer 7-8-jährigen Fruchtfolge macht es durchaus Sinn, 1-2x auf Futtermittel zu setzen, auf Kunstwiese oder (selten) Futtermais. Aber tabuisiert wird: Der Tierbestand in der Schweiz ist zu hoch. Das ist auch der Hauptgrund für zu viel Stickstoff- und Phosphoreintrag.
  • Hühner und Schweine ernähren sich nicht vom Grasland oder von «Raufutter», wie es im Fachjargon heisst. Sie werden mit Kraftfutter ernährt. Dieses wird zu mehr als der Hälfte importiert, bei der Pouletmast macht es 90% aus. Mit anderen Worten: Diese Tiere hinterlassen mehr Mist als bei uns wieder in den Kreislauf gebracht werden kann. Die Antwort kann nur darin bestehen, dass wir weniger Eier, Poulet und Schweinefleisch konsumieren. Das geht nicht über Vorschriften, aber über mehr Wissensvermittlung.
  • Unsere Gewässer im Mittelland, die Seen, Bäche und Flüsse, sind überdüngt. Wir haben es noch nicht geschafft, den Schadstoffeintrag wirksam zu reduzieren. Ja, es gibt auch zahlreiche zivilisationsbedingte Umweltbelastungen (Chemikalien, Schwermetalle, PFAS), denen leider die Landwirtschaft auch ausgesetzt ist. Aber es ist keine Rechtfertigung für die Übernutzungen.

Fazit

 Die Lebensmittelinitiative ist utopisch. Eine Initiative darf utopisch sein – in der Vergangenheit ist die Schweiz oft mit vorerst utopischen Vorschlägen vorwärts gekommen. Auch unsere Jungpartei hat mit der Umweltverantwortungsinitiative vor kurzem eine im besten Sinne utopischen Pfad (Einhaltung der planetaren Grenzen) eingeschlagen – mit meiner Unterstützung. Die Lebensmittelinitiative bewegt sich jedoch nicht in grundsätzlich neuen Themenfeldern. Aber sie will zu viel aufs Mal. Ich teile ihre Ziele, aber wenn schon müssten es mehrere je separate Entscheidungen sein.  

Der Gegenvorschlag hätte meine Unterstützung gehabt. Er trägt vielen Vorbehalten Rechnung und greift die wichtigen Ziele auf. Die Verbindung von Landwirtschafts- und Ernährungspolitik sollten wir noch viel öfter herstellen, nicht zuletzt mit Blick auf die menschliche Gesundheit.