
Selbstverständlich hätten in der Schweiz 16 Millionen Platz
Ja, dieser Titel ist provokativ. Ich wähle ihn, weil die Volksinitiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» einen derart populistischen Titel trägt und derart chaotische Folgen hätte, dass es ein Gegengewicht braucht. Es geht den Urhebern und Urheberinnen dieser Initiative überhaupt nicht um das vorgeschobene Argument der Belastbarkeit unserer Ressourcen – sonst hätten sie am 9. Februar 2025 die Umweltverantwortungsinitiative der Jungen Grünen befürwortet. Es geht ihnen um plumpe und nur schlecht kaschierte Ausländerfeindlichkeit. Alles Üble wandert ein. Dieser xenophoben, leider wieder zunehmend salonfähigen Haltung trete ich entschlossen entgegen.
Was verlangt die Initiative, und was wären die Folgen?
Die Initiative will in die Verfassung hineinschreiben, dass bis zum Jahr 2050 die Zahl der ständigen Wohnbevölkerung in der Schweiz die Grenze von 10 Millionen Menschen nicht überschreiten dürfe. Anschliessend dürfte dieser «Grenzwert» auf dem Verordnungsweg um einen allfälligen Geburtenüberschuss nach oben angepasst werden.
In der Übergangsbestimmung wird gefordert: Wenn die Schwelle von 9,5 Millionen Menschen überschritten sei, dann müssten der Bundesrat und die Parlamentskammern Massnahmen ergreifen, «insbesondere im Asylbereich und beim Familiennachzug». Zudem dürften dann vorläufig Aufgenommene kein Bleiberecht erhalten; sie müssten das Land verlassen. Wenn dennoch (vor 2050) die 10 Millionen-Grenze überschritten würde, dann müsste die Schweiz internationale Übereinkommen kündigen: Zunächst den UNO-Migrationspakt, zwei Jahre später die Personenfreizügigkeit mit der EU. Es wäre das Ende der bilateralen Abkommen.
Auffallend ist einmal mehr, dass Asyl und Beschäftigungszuwanderung wild durcheinander gewirbelt werden. Das hat System: Man beklagt die Arbeitsimmigration (sie macht den Hauptteil der Zuwanderung aus) und zielt auf Menschen, die auf der Flucht sind und bei uns Schutz suchen. Dass man vorläufig Aufgenommenen kein Bleiberecht gewähren würde, verstösst gegen das Völkerrecht. Auch das Recht auf Familienzusammenführung ist in internationalen Konventionen gesichert, etwa in der Kinderrechtskonvention.
Zur Zeit steigt die ständige Wohnbevölkerung pro Jahr netto um rund 80’000 Personen. Wenn die aktuelle Entwicklung etwa gleichförmig weitergeht, wird die Schweiz in 5-6 Jahren die 9,5 Millionen Wohnbevölkerung erreichen; nochmals sechs Jahre danach die 10 Millionen. Etwa 2040 könnte also Schluss mit den bilateralen Abkommen sein. Das Gesundheitswesen, die Gastronomie, die produzierende Industrie und viele mehr könnten kein Personal mehr finden. Das Saisonnier-Statut müsste wohl wieder eingeführt werden. Eine weitere Folge wäre, dass Schweizerinnen und Schweizer nicht mehr entscheiden dürften, im Ausland zu studieren oder zu arbeiten. Die Initianten wissen, dass dieses Chaos bevorstünde. Sie wollen es in Kauf nehmen, wie sie sowieso gerne ständig die Politik vor sich hertreiben.
Warum wächst die Schweiz?
Gut möglich, dass diese Frage auf Unverständnis stösst: Es ist doch klar, dass die Bevölkerungszahl wegen der Zuwanderung ansteigt! Schliesslich ist die Geburtenrate tief, so tief, dass die Bevölkerung eigentlich schrumpfen müsste.
Doch die Zahl der Menschen in der Schweiz nimmt auch ohne Immigration zu. Ein Effekt geht fast immer vergessen: Wir werden älter. Zwar flacht die Kurve etwas ab, aber nach wie vor steigt die Lebenserwartung. Das allein macht ein Wachstum von rund 20’000 Personen jährlich aus, also eine Stadt in der Grösse von Olten.
Die Jahresstatistik der Zuwanderung, welche der Bundesrat jeweils im Februar veröffentlicht, geht detailliert auf alle wichtigen Daten rund um Migration ein, also auf Zu- und Abwanderung. Viele Fakten verdienen Beachtung, weil sie weit von dem entfernt sind, was in den Medien oft im Fokus steht. Einigermassen bekannt ist, dass rund 25% der Bevölkerung einen ausländischen Pass hat. Schon weniger geläufig dürfte sein, dass Italien, Deutschland, Portugal, Frankreich, Spanien (in dieser Reihenfolge) zusammen mehr als die Hälfte aller Ausländerinnen und Ausländer ausmachen.
Jährlich kommen rund 15’000 bis 20’000 Menschen neu in die Schweiz, weil sie hier studieren wollen. Die Hochschulen wollen sie, denn der Fachkräftemangel ist ein grosses Problem. Zum Vergleich: 2024 bekamen deutlich weniger, nämlich rund 11’400, als Geflüchtete einen ständigen Aufenthaltsstatus, das heisst eine Anerkennung als Flüchtling oder eine vorläufige Aufnahme.
Der Familiennachzug bewirkte 2024 brutto eine Zuwanderung von rund 42’400 Menschen; oft Kinder. Spannend, dass gut 15 Prozent dieser «Nachgezogenen» Partner:in oder Nachkomme von Schweizer:innen sind! Die grösste Gruppe der Zugewanderten – es waren rund 89’400 – kam zum Zweck der Erwerbstätigkeit. Sie stammten zu 95% aus EU/EFTA-Staaten. Auch hier: Diese Menschen werden dringend gebraucht. Und hier ist gleich anzufügen, dass im letzten Jahr 78’900 Personen mit ausländischem Pass, die vorher zur ständigen Wohnbevölkerung gehörten, die Schweiz verlassen haben! Menschen kommen und gehen – das ist der Normalfall.
Die Migration ist nicht der Auslöser, sondern die Folge von Entscheidungen
Die Netto-Zuwanderung ist nicht der Treiber! Sie ist vielmehr die Folge von vielen anderen Entscheidungen. Das Wirtschaftswachstum, welches viele Branchen an den Tag legen, die Vergrösserungen von Firmen und Neuansiedlungen: Das ruft nach Arbeitskräften, die nicht schon heute im Land wohnen. Die Tiefsteuerpolitik der Schweiz trägt das Ihre dazu bei. Hört man sich im Land um, wollen alle Gemeinden wachsen, möglichst um zahlreiche gute Steuerzahler:innen. Darauf richtet man Raumplanung und diverse Lockinstrumente aus. Auch die Kantone haben es gern, wenn sie wachsen. Doch die Nation soll plafoniert werden? Das geht nicht auf. Wenn wir die Netto-Zuwanderung kleiner halten wollen, dann gibt es nur eines: Langsamer wachsen! Leben statt Profit.
Wer braucht wieviel Platz?
Singapur ist ein prosperierendes Land mit einem hohen Bruttoinlandprodukt. Es hat eine Fläche von 735 Quadratkilometern und rund 6 Mio. Einwohner:innen. Proportional auf die Schweiz übertragen würde das heissen: Die Bevölkerung von 9 Millionen auf der Fläche von 1100 Quadratkilometern. Das entspricht etwa jener des Kantons Uri. Dort hat es viele steile Berge, darum passt ein Mittelland-Kanton besser. Würden ALLE Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz im Kanton Aargau (auf rund 1400 qm Fläche) wohnen, hätten sie etwas mehr Platz als in Singapur.