Fremdsprachenunterricht in der Nordwestschweiz – koordiniert oder Potpourri?
Wann soll in den Schulen der Deutschschweiz welche Fremdsprache einsetzen? Am 27. November 2025 führte die Vereinigung für eine Starke Region Basel/Nordwestschweiz, die ich co-präsidiere, in Basel einen Anlass mit Podium zum Thema «Fremdsprachenunterricht in den Kantonen der Nordwestschweiz – koordiniert oder ein Potpourri?» durch. Impulsgeberin war die Leiterin des Zentrums für Fremdsprachedidaktik der FHNW, Mirjam Egli Cuenat. Auf dem Podium waren Bildungsexperten der Kantone BS, BL, SO, AG und JU. Hier mein Rückblick dazu.
Zur Einordnung
Die Kantone der Westschweiz gehen in der Frage, wann welcher Fremdsprachenunterricht beginnt, alle denselben Weg. Es sind dies die «reinen» französischsprachigen Kantone GE, VD, NE, JU, die beiden mehrheitlich frankophonen Kantone VS und FR sowie der französischsprachige Teil des Kantons Bern. Überall beginnt in der 3. Primarschulklasse der Deutschunterricht und in der 5. Klasse der Englischunterricht.
BEJUNE (das heisst französischsprachig-Bern, Jura, Neuchâtel) haben eine gemeinsame Pädagogische Hochschule. Alle angehenden Primarlehrpersonen erwerben die Kompetenz, den Deutschunterricht zu erteilen.
In der Deutschschweiz ist die Ausgangssituation uneinheitlicher. Kantone direkt oder nahe der Sprachgrenze beginnen in der 3. Primarschulklasse mit Französisch und in der 5. Klasse mit Englisch: Dies gilt in den deutschsprachigen Gebieten der Kantone BE, FR, VS sowie in den Nordwestschweizer Kantonen. Die übrige Deutschschweiz (AG, ZH, gesamte Zentral- und Ostschweiz ohne GR) starten in der 3. Primar mit Englisch und folgen ab der 5. Primar mit Französisch.
Die Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz (PH FHNW) befähigt die Lehrpersonen fürs Unterrichten jeweils in einem Zyklus: Zyklus 2 steht für das 3. bis 6. Primarschuljahr. Die angehenden Lehrpersonen müssen sich zwischen Englisch und Französisch entscheiden. Rund 75 Prozent entscheiden sich für Englisch. Es droht ein Mangel an Lehrkräften der Primarschule, die in der Lage und berechtigt sind, Französisch zu unterrichten.
Seit 2009 ist das HarmoS-Konkordat in Kraft. Es legt fest, dass in allen angeschlossenen Kantonen die erste Fremdsprache im 3. und die zweite Fremdsprache im 5. Primarschuljahr beginnt. Eine der beiden muss eine Landessprache sein. Bisher erfüllen dies alle Kantone, auch jene, die dem Konkordat nicht beigetreten sind. Nun haben im März und September 2025 nacheinander die Kantonsparlamente von AR, ZH und SG beschlossen, Primarschulfranzösisch abzuschaffen und den Start dieser zweiten Fremdsprache (und zugleich Landessprache) in die Sekundarstufe zu verlegen. Das verstösst offensichtlich gegen das Konkordat. Mit diesen Beschlüssen wurde die Frage «Wann beginnt die Schule mit dem Unterrichten von Fremdsprachen» nach rund 15 Jahren «Ruhe» erneut grundsätzlich lanciert.
In den beiden Basel gibt es politische Vorstösse, den Start von Französisch von der 3. ins 7. Schuljahr zu verlegen. Als Reaktion darauf wurde im September 2025 eine breit angelegte Befragung zum Fremdsprachenkonzept gestartet[1]. Im Kanton Solothurn verlangte ein Vorstoss, Englisch ins erste Sekundarschuljahr zu verschieben. Am 11.11. wurde dieser Vorstoss zu Gunsten einer offenen Formulierung zurückgezogen: Nun will man auf eine «Flexibilisierung des Fremdsprachenunterrichts» hinarbeiten. Einen Ausschluss aus dem HarmoS-Konkordat will der Kanton SO nicht riskieren.
Stichwort «Überforderung»
Der Anlass der «Starken Region» vom 27. November 2025 hat bestätigt, was andere Diskussionen und Medienberichte ebenfalls zeigen: Die Frage der interkantonalen Koordination ist in den Hintergrund gerückt. Im Vordergrund steht die Diskussion um Überlastung und Überforderung: Überforderung der Schüler:innen, Überforderung spezifisch jener Schüler:innen, die zuhause nicht die Lokalsprache sprechen, Überforderung der Lehrpersonen, Überforderung der Eltern.
Entsprechend werden die Vorschläge zur Konzeptänderung damit begründet, dass man drohen-den Überforderungen entgegenwirken will. Dass die Kantone und Regionen der Schweiz dabei riskieren, weiter auseinanderzudriften, wird oft nicht weiter erörtert.
Was sagt die empirische Forschung zum Thema Überforderung? Prof. Dr. Mirjam Egli Cuenat, Leiterin der Professur Fremdsprachendidaktik an der PH FHNW, ging in ihrem Inputreferat darauf ein. Zwei Studien von 2016 und 2018 kamen zum Schluss, dass 6. Klässler:innen im Französischuntericht «gestresst» sind. Im Umkehrschluss: 75-80 Prozent sind nicht gestresst. Nicht bestätigt wurde bisher, dass für mehrsprachige Kinder aus einem fremdsprachigen Elternhaus ein generelles Überforderungsrisiko bestehe. Aus dem Publikum kam dazu eine kritische Stimme: Diese Studien lägen schon einige Jahe zurück; heute würde es aufgrund der stark angestiegenen Kindern ohne deutsche Muttersprache wohl anders aussehen.
In der Podiumsrunde waren sich alle einig, dass es in der Primarschule überforderte Kinder gibt und dass die Schule stark herausgefordert ist, ihnen gerecht zu werden. Diese Herausforderung stellt sich allerdings losgelöst vom Stundenplan. Niemand wolle Mathematik aus einer Schulstufe verbannen, obwohl auch in diesem Fach gewisse Kinder an Grenzen stossen. Darum sei es nicht berechtigt, die Fremdsprachen zu «Prügelfächern» zu erklären. Genauso wenig sei es berechtigt, die wachsende Zahl mehrsprachiger Kinder als Übel zu bezeichnen.
Was die Lehrpersonen betrifft, kommen empirische Erhebungen zum Schluss, dass rund 75% der Lehrpersonen in der Primarschule gerne Fremdsprachen unterrichten. Auch hier kann im Umkehrschluss abgeleitet werden, dass dies ein Viertel der Lehrpersonen nur mässig oder gar nicht gerne tut. Breit unterstützt ist der Wunsch nach mehr Fortbildung in Didaktik und Sprachkompetenz. Die bereits erwähnte (Ab-)Wahlmöglichkeit für Studierende der PH FHNW bei der Entscheidung zwischen Französisch und Englisch könnte ein Hinweis darauf sein, wie gut sich die angehenden Primarlehrkräfte in ihrer eigenen bisherigen Schulkarriere mit diesen beiden Sprachen anfreundeten.
Liegt die Überforderung weder bei den Schüler:innen noch bei den Lehrpersonen, jedoch bei den Eltern? Diese Frage aus dem Publikum wurde offenbar noch nicht wissenschaftlich untersucht.
Stichwort «Wann womit beginnen?»
Auf dem Podium des Anlasses vom 27. November 2025 sassen je ein Vertreter der Kantone JU, SO, BS, BL und AG. Auf die konkrete Frage der Moderatorin, was aus jeweils persönlicher Sicht der richtige Startzeitpunkt für welche Sprache sei, antworteten mehrere Podiumsteilnehmer zunächst ausweichend. Klar äusserten sich die beiden Regierungsräte in der Runde: Mathias Stricker, Solothurner Bildungsdirektor und bis vor einem halben Jahr selber Primarlehrer im 2. Zyklus, findet das Modell 3/5 mit Französisch als erste Fremdsprache richtig. Sein jurassischer Kollege Martial Courtet will ebenfalls am Konzept festhalten: zwei Fremdsprachen auf Primar-stufe, starten mit Deutsch. Er betont die staatspolitische Komponente.
Pascal Ryf-Stocker, Landrat aus Oberwil (BL), will auf der Primarstufe bloss noch eine Fremdsprache, welche erst im 5. Schuljahr einsetzt: für ihn ist dies Französisch. Englisch soll in die Oberstufe verlegt werden. Es sei die Summe der Fächer, welche in der Primarschule zu hoch sei und nach einer Reduktion rufe.
Urs Bucher, Leiter Volksschulen des Kantons Basel-Stadt, betonte am stärksten, dass die Eng-lisch-Dominanz im Alltag nicht wegzudiskutieren sei. Betreffend der bildungspolitischen Entscheidungen plädiert er dafür, vom Ziel her zu denken: In welcher Sprache müssten die Jugendlichen am Schluss der obligatorischen Schule über welches Niveau verfügen? Der Weg zu diesem Ziel könne zu unterschiedlichen Zeiten einsetzen, auch erst in der Oberstufe. Sein Amtskollege aus dem Kanton Aargau, Patrick Isler-Wirth, verwies auf das Spannungsfeld: Mit einem früheren Beginn seien wohl ein grösserer Teil der Kinder gut motivierbar, ein späterer Beginn führe jedoch bei den meisten zu einem rascheren Lernfortschritt. Die Inputgeberin des Abends, Mirjam Cueni, führte dazu aus, dass ein früher Fremdsprachenstart bei der Mehrzahl der Kinder langfristige Erfolge begünstigen würde. Dies wiederum komme jenen am meisten zu Gute, die später nicht das Gymnasialniveau schafften. Mit anderen Worten: Ein späterer Einstieg ins Fremdsprachen-lernen bewirkt zwar bei guten Schüler:innen den erwähnten raschen Fortschritt, aber er führt auch zu einer Vergrösserung der sozialen Unterschiede.
Die Tatsache, dass innerhalb der Deutschschweiz die meisten Kantone zuerst Englisch, als zweites Französisch einführen, wird oft damit begründet, dass englische Begriffe und Formeln in unserem Alltag sehr präsent seien und dass darum viel einfacher in diesen Sprachunterricht eingetaucht werden könne. Auf dem Podium wurde dies zum einen bestätigt, zum anderen auch relativiert: Gerade die Tatsache, dass Französisch anspruchsvoller zu lernen sei, könnte Anlass dafür sein, früher zu beginnen.
Alle Podiumsteilnehmer aus den fünf Kantonen sprachen sich dafür aus, dass in der Nordwest-schweiz Französisch bereits in der Primarschule beginnen soll. Niemand will den Weg gehen, den die Kantonsparlamente von ZH, SG und AR beschlossen haben. Ob das Modell weiterhin 3/5 sein soll, oder aber 3/7 oder 5/7, dazu gab es keine Übereinstimmung.
Grosse Einigkeit herrschte auf dem Podium zum Stichwort Föderalismus: Auf keinen Fall will die Nordwestschweiz zulassen, dass der Bund alles vorschreibt. Da sucht man eher einen (Aus-) Weg, der unterschiedliche kantonale Konzepte zulässt – Flexibilisierung eben. Dass für Familien mit Schulkindern ein Umzug zwischen Nachbarkantonen (z.B. von Kaiseraugst AG nach Augst BL oder umgekehrt) ein Ärgernis sein könnte, weil die einen Englisch ab der 3. Klasse, die andern künftig vielleicht ab der 7. Klasse haben: Was soll’s?
Kurz wurde erwähnt, dass es aus Sicht der französischen Schweiz – sie ist bekanntlich national in der Minderheitsposition – als Abwertung empfunden wird, wenn Deutschschweizer Kantone den Französischunterricht nach hinten verschieben. Das Argument scheint jedoch nicht zu «stechen».
«Verstärkung der Mehrsprachigkeit» oder «deutsch zuerst»?
Oft werden Befürchtungen geäussert, dass ein früher Fremdsprachenunterricht andere Fächer verdrängen und somit deren Schulerfolg gefährden würde. Impulsreferentin Mirjam Egli Cuenat entkräftete diese Befürchtungen: Studien auch sehr jungen Datums konnten das nie bestätigen.
Können zu viele Kinder zu wenig gut deutsch? Sowohl das Podium als auch die anschliessenden Voten aus dem Publikum zeigten, dass dieser Befund von vielen geteilt wird. Sie schreiben es zwar eher dem heutigen Medienverhalten und nicht einem (zu) frühen Fremdsprachenerwerb zu. Aber es wird moniert, dass es für den Erwerb jeder Fremdsprache wichtig sei, in der Erstsprache sattelfest zu sein. Das wird durch wissenschaftliche Studien bestätigt und gilt auch für Menschen, die aus einem anderen Sprachraum immigriert sind. Allerdings greift die Erklärung zu kurz, dass Kinder mit anderssprachigem familiären Hintergrund grössere Mühe hätten, deutsch zu lernen. Der entscheidende Faktor ist das Bildungsniveau der Eltern – auch für Deutschschweizer Kinder. Die Klagen über schlechte Kenntnisse der Lokalsprache sind wohl so alt wie die Schulbildung.
Braucht die Primarschule also mehr Deutsch? Als Vorteil erweist sich eine frühe Deutschförderung schon vor dem Schuleintritt, wozu Basel-Stadt in der Schweiz Pionierarbeit leistete. Darüber hinaus scheinen es andere schulische Konzepte zu sein: Gefragt wäre eine Verstärkung der Mehrsprachigkeit. Mirjam Egli Cuenat fasste diese in einem Vierklag zusammen: vernetzendes Sprachenlernen, Stufenübergang, Austausch, zweisprachiger Unterricht.
Vernetzendes Sprachenlernen meint, dass Schulen öfter den Kindern die Gelegenheit zum Vergleichen zwischen verschiedenen Sprachen bieten könnten – inklusive Herkunftssprachen. Bei den Übergängen zwischen Schulstufen im schweizerischen System gäbe es noch viel Potenzial für Optimierungen. Schüler- oder Klassenaustausch über die Sprachgrenzen hinweg sind grosse Chancen und könnten durchaus mit jüngeren Kindern durchgeführt werden, als es heute (wenn überhaupt) stattfindet. Und zweisprachiger Unterricht in unterschiedlichen Fächern bzw. Bildungsinhalten wird noch viel zu selten gewagt.
«Französisch und Englisch ab dem Kindesalter als festen Bestandteil des schulischen Sprachenlernens»: Diese provokative Idealvorstellung der Inputreferentin wurde von den Podiumsteil-nehmenden nicht aufgegriffen. Immerhin wurde an die Erfolge des Immersionsunterrichts erinnert (Porrentruy JU und Laufen-Thierstein in Laufen BL führen solche Klassen), allerdings meistens mit Bezug auf die Gymnasialstufe.
Schlusswort Felix Wettstein
Es sind möglicherweise zwei Traditionen, die uns im Weg stehen:
- a) das Stundenplandenken: An den meisten Schulen wird jedes Fach in jeder Schulwoche während ein paar festgelegten Stunden unterrichtet. Ernüchtert stellt man vielerorts fest, dass zwei-drei Wochenstunden «nichts» brächten. Der Lehrplan 21 für die Deutschschweiz und der Plan d’Etudes Romand PER für die Westschweiz würden zulassen, dass eine Schule von diesen zerstückelten Stundenplänen abrückt und z.B. auf Epochenunterricht setzt.
b) Primarlehrpersonen sind ausschliesslich für eine Klasse da und sollten «eigentlich» alles können: Faktisch ist es längst vollzogen, dass auch an den Primarschulen jede Klasse bei mehr als eine Lehrperson Unterricht hat. Pragmatisch sucht man Lösungen, die den Lehrpersonen erlauben, gewissen Fächern auszuweichen. Dabei steht jeweils das Gesamtpensum einer Klasse im Fokus.
Grundsätzlich anders wäre es, wenn z.B. 4-5 gleichberechtigte Lehrpersonen miteinander für drei Parallelklassen desselben Zyklus zuständig wären. Ihre Lehrbefähigungen würden sich ergänzen. Aus Sicht der Kinder hätte jede Klasse eine Klassenlehrperson und würde dieser auch am häufigsten (z.B.an mindestens drei Schultagen) begegnen. Jede der drei Klassen hätte aber auch bei den anderen 3-4 Lehrpersonen Unterricht; gewisse Inhalte könnten klassenübergreifend gestaltet werden; Projektphasen sowieso. Kinder und Lehrpersonen würden den Verband dieser drei Klassen als Einheit erleben.
[1] https://www.bs.ch/medienmitteilungen/ed/2025-befragung-zum-fremdsprachenkonzept-der-volksschule