Nach dem Start der Wintersession 2021 stelle ich einmal mehr fest: Es sind weitgehend die jeweils gleichen Interessenskreise, die mit grosser Regelmässigkeit kurz vor der neuen Session einen Sessionsbrief verschicken und dabei ganz konkrete Abstimmungsempfehlungen abgeben. Sie sind über die Vorbereitungen der Kommissionen bestens informiert und empfehlen Zustimmung oder Ablehnung nicht nur zu ganzen Geschäften, sondern oft auch zu einzelnen Mehrheits- bzw. Minderheitsanträgen der vorberatenden Kommission.

46 derartige Sessionsbriefe mit Empfehlungen zu mehreren Geschäften sind bei mir eingetroffen: Sie kommen meistens per Mail, aber immerhin acht setzen auf «doppelt gemoppelt» und schicken die Empfehlungsliste auch noch im Couvert. Zum Vergleich: 40 der Absender*innen waren auch in der Sommersession dieses Jahres auf dem Parkett. Die meisten von ihnen wenden sich an beide Räte – selbstverständlich mit getrennten Empfehlungen – einige schicken mir jedoch nur die Tipps für den Nationalrat: Sie haben für den Ständerat einen eigenen Sessionsbrief; deutsch und französisch, selbstverständlich. Die 46 Absender geben uns im Nationalrat zusammen 159 Tipps zur Wintersession 2021; der Ständerat hat diesmal noch mehr Anleitungen bekommen.  

Das umkämpfteste Themenfeld ist einmal mehr die Gesundheitspolitik: Sie steht bei zehn der Sessionsvorschauen im Fokus, darunter Santésuisse, Curafutura, der Spitalverband H+, die FMH, Sexuelle Gesundheit Schweiz, aber auch die Gesundheitsdirektorenkonferenz. Mehrfach vertreten ist auch die Welt der Banken und Versicherungen sowie Treuhand und Wirtschaftsprüfung. Der Service Public ist durch den Schweizerischen Gemeindeverband, den Städteverband und den Kanton Basel-Stadt vertreten. Wie immer sind die Chemiebranche, die Agrochemie, der Baumeisterverband und der Verband Immobilien Schweiz à jour. Gastro Suisse und HotellerieSuisse repräsentieren den Tourismus. Auch diverse Nonprofit-Organisationen rufen sich vor jeder Session in Erinnerung. Sie sind allerdings in geringerer Zahl vertreten, zum Beispiel die Umweltallianz, der Studierendenverband VSS, Kinderschutz Schweiz, Pro Juventute, die Jugendverbände SAJV, die Flüchtlingshilfe und Amnesty international.

Der Gewerkschaftsdachverband Travail Suisse gibt gleich zu 12 Nationalratsgeschäften der Session seine Empfehlungen ab (weitere 12 für den Ständerat). Es folgt der Städteverband mit neun traktandierten Geschäften sowie Swissmem (Metall-Elektro-Maschinen), HotellerieSuisse und der Kassenverband Curafutura mit je acht Tipps. Am schnellsten, 13 Tage vor dem Sessionsstart, war – nicht zum erstenmal – der Wirtschaftsverband SWICO (ICT- und Internetbranche) mit seinen Tipps zur Stelle.  Gut die Hälfte aller Sessionsbriefe trafen jedoch erst am Donnerstag oder Freitag vor Sessionsbeginn ein. Und drei «Sessionsvorschauen» lagen erst am Starttag der Session im Maileingang, fünf weitere nochmals einen Tag später!

Nicht mitgezählt habe ich alle Zusendungen, die sich gezielt auf ein einzelnes Geschäft beziehen. Auch davon gibt es mehrere Dutzend. Vor allem zu den Anpassungen des Covid-19-Gesetzes, aber z.B. auch zur Parlamentarischen Initiative 14.470 «Schweizer Stiftungsstandort: Stärkung» sind mehrere institutionelle Zuschriften eingegangen. Erfahrungsgemäss werden bis Ende der Session noch einige solche Tipps eintreffen. Es kommt vor, dass wir am Vormittag eine Abstimmungsempfehlung zu einem Geschäft des gleichen Nachmittags erhalten!

Ich bekomme oft die Frage gestellt, ob denn solches Lobbyieren einen Einfluss auf unser Abstimmungsverhalten habe. Die Frage ist sehr berechtigt, denn in der Tat hat die Meinungsbildung in der Fraktion meist schon vorher stattgefunden. Den grössten Einfluss auf mein Stimmverhalten haben die eigenen Fraktionskolleginnen und -kollegen, die sich in der jeweiligen vorberatenden Kommission in die Geschäfte vertieft hatten. Gleichwohl hat die regelmässige Präsenz als Lobby-Organisation, zum Beispiel mit einem Newsletter zu jeder Session, ihre Wirkung: Es wirkt sich vielleicht nicht so sehr auf das Abstimmungsverhalten bei einzelnen Geschäften aus als vielmehr im Sinne von «Public Relations»: Es wird eine Vertrautheit aufgebaut. Wenn ich ehrlich bin, kann ich mich dem nicht entziehen: Ich würde gewisse Sessionsbriefe vermissen, wenn sie plötzlich ausbleiben würden…