Die unterschätzte historische Situation am Wahlsonntag
Wahlsonntag-Nachmittag im Medienzentrum in Solothurn: Auf der Projektionsfläche leuchten die beiden Grafiken mit dem jeweiligen Zwischenstand der Auszählungen auf. Da ist zum einen das Bild zum Ständerat. Schon bald ist sichtbar, dass es Pirmin Bischof im ersten Wahlgang schaffen wird. Er liegt über dem absoluten Mehr, schon bevor seine «Heimbasis» ausgezählt ist. Sichtbar ist auch, dass ich auf dem erwartbaren fünften Rang bin, aber der Rückstand auf die Plätze 2 bis 4 ist zu gross. Da wird nichts mehr zu holen sein, also konzentriere ich mich auf den Nationalrat.
Dazu zeigt die zweite Grafik schon früh: Die SVP darf wieder zwei Sitze erwarten, die FDP einen (sie erwartet nicht mehr), die SP ebenfalls einen (sie hofft auf mehr) und die Mitte – zwei! Edgar Kupper als Zweitplatzierter auf der Hauptliste wird als provisorisch gewählt gehandelt. Ich würde die Wiederwahl verpassen. Irgendwann sind noch 7 Gemeinden (von 107) nicht ausgezählt, dann noch 4, dann nur noch eine – und immer noch das gleiche Bild. Für mich unsichtbar, für die Restschweiz, welche TV schaut, nicht: Wettstein wird als abgewählt gemeldet. Es dauert aber nochmals rund 40 Minuten, bis auch die Resultate aus der Stadt Solothurn eintreffen. Innert eines Sekundenbruchteils erfolgt die Wende: Die Listenverbindung SP und GRÜNE hat doch zwei Sitze, je einen wie bisher, und ich bleibe Nationalrat. Noch kaum je in meinem Leben habe ich einen solch heftigen Moment erlebt.
Im Vorfeld war ich ja von diversen Stellen abgeschrieben worden. Da die GRÜNEN verlieren würden, ginge der Sitz wohl wieder an die Listenverbindungs-Partnerin SP zurück, hiess es. Dass er aber an die frühere CVP, heute «Die Mitte» gehen könnte, das hatte niemand auf dem Radar. Beinahe wäre es eingetreten. Beinahe hätte die Listenverbindung SP und GRÜNE statt 2 nur noch einen Sitz im Nationalrat gehabt. Es wäre eine historische Niederlage gewesen. Die Aussicht darauf hat mich am Wahlsonntag-Nachmittag mehr umgetrieben als meine drohende Abwahl. Driftet der Kanton Solothurn tatsächlich so weit nach rechts?
Nach 106 Jahren… – der Sitz bleibt links-grün
Tags darauf habe ich nachgeforscht: Es war im Jahr 1917, zwei Jahre vor Einführung des Proporzwahlrechts, als die SP des Kantons Solothurn den zweiten Nationalratssitz holte. In den 106 Jahren, die seither vergangen sind, waren diese beiden Sitze stets auf sicher. Seit die GRÜNEN mitmischen, gab es immer die Listenverbindung, und sie hat 1991, 2007 und 2019 dazu geführt, dass einer der linken Sitze für vier Jahre gleichzeitig ein grüner war.
Und heuer sah es bis und mit der zweitletzten Gemeinde anders aus. Während in anderen Kantonen die SP zulegte (schweizweit plus 1.5%) und einen Teil der grünen Verluste wettmachte, musste die SP in unserem Kanton ebenfalls Federn lassen (minus 1,2%). Eine genauere Analyse zeigt, dass sowohl SP als auch wir GRÜNEN in den Städten Solothurn und Olten halten oder sogar noch zulegen konnten, aber in ländlichen Gegenden – wo wir bereits auf tiefem Level sind – schrumpften. Die beiden Parteileitungen werden gemeinsam genau analysieren müssen, wie es weitergeht. Der Stadt-Land-Graben (mit Grenchen als Teil von «Land») darf in unserem Kanton nicht noch weiter aufreissen!
SP-Regierungsrätin Susanne Schaffner hat nach Bekanntgabe des Endergebnisses die Tragweite sofort erfasst. Sie hatte zwei rote Rosen parat, für die Gewählten ihrer Partei. Sie überreichte eine davon mir. Ich habe ihr von Herzen gedankt und wiederhole den Dank hiermit, denn in diesem Moment ging es nicht bloss um meine Wiederwahl, sondern um die Kräfteverhältnisse in unserem Kanton. Linksgrün stellt immerhin auch zwei von fünf Regierungsrätinnen…