
Individualbesteuerung – gesellschaftspolitisch ein Muss
Mit zwei Stimmen Vorsprung hat der Nationalrat am 7. Mai beschlossen, die Volksinitiative zur Individualbesteuerung zur Annahme zu empfehlen. Das kommt bei Volksinitiativen nicht häufig vor. Und in der Hinterhand hat der Rat den indirekten Gegenvorschlag in Form des Bundesgesetzes über die Individualbesteuerung. Zwischen den Räten gibt es noch drei Differenzen, die hoffentlich im Sommer bereinigt werden können.
Für mich geht es beim Thema Individualbesteuerung in erster Linie um eine gesellschaftspolitische Frage und erst in zweiter Linie um eine finanzpolitische Frage. Mir scheint selbstverständlich, dass alle erwachsenen Personen gegenüber dem Staat und den Steuerbehörden gleich bedeutsam sind und gleich gestellt sein müssen. Damit kommen wir im 21. Jahrhundert an – endlich.
Bei den Steuern heisst das: Jede erwachsene Person soll eine eigene Steuererklärung ausfüllen, unabhängig vom Zivilstand und von der Haushaltszusammensetzung. Bisher haben wir ja die sehr spezielle Situation, dass eine Frau ab ihrem 18 Altersjahr eine persönliche Steuererklärung auszufüllen hat. Wenn sie dann irgendwann heiratet, ist es damit zu Ende. Ab der Hochzeit gibt es für die Paare nur noch eine Steuererklärung: «Person 1» gilt für den Ehemann oder der/die eingetragene/r Partner/in; «Person 2» meint die Ehefrau oder der/die andere eingetragene/r Partner/in. Würden dieselben zwei Personen im Konkubinat leben, wären sie selbstverständlich weiterhin zwei «Steuersubjekte».
Als eines der Gegenargumente gegen die Vorlage wurde beklagt, dass die Kantone zusammen rund 1,7 Millionen zusätzliche Steuererklärungen auswerten müssen. Dazu sage ich: Ja und? Das kann doch kein Argument sein, wenn wir endlich Gleichberechtigung wollen! Wenn wir endlich erreichen wollen, dass bei gleichem Haushaltseinkommen und gleicher Haushaltszusammensetzung nicht mehr der Zivilstand bewirkt, dass die einen mehr bezahlen und die anderen weniger.
Auf wie viele Einnahmen muss der Staat verzichten?
Dass sich die Politik in dieser Frage so schwer tut, ist damit zu erklären, dass die Umstellung des Systems zu mehr oder weniger hohen Steuerausfällen führt. Der Bund, aber auch die Kantone und Gemeinden, werden nach der Umstellung weniger Einnahmen haben. Der Grund dafür liegt in der Steuerprogression: Wenn zwei Einkommen zusammengezählt werden, wird die Summe höher besteuert als wenn die beiden je separat veranlagt werden.
Welcher Einnahmeausfall ist noch zu rechtfertigen? Dazu haben wir in den Räten ausgiebig gefeilscht. Nun haben wir eine Lösung gefunden, die auch von uns GRÜNEN als Kompromiss akzeptiert werden kann. Ausgehend von der heutigen Beschäftigung der Menschen in der Schweiz und ihrem Gesamteinkommen müsste der Bund auf 600 Millionen Einnahmen bei der direkten Bundessteuer verzichten. Das ist viel. Aber es sind nicht 3 Milliarden, welche fehlen würden, wenn an den Steuertabellen gar nichts verändert würde!
50 Prozent aller Steuerpflichtigen werden gegenüber heute entlastet: Am meisten profitieren erwartungsgemäss Verheiratete, wenn beide verdienen. Auch Rentnerinnen und Rentner profitieren. Für 36 Prozent der Personen ändert sich gegenüber heute nichts. 14 Prozent werden etwas mehr Steuern als bisher zahlen müssen. Es sind vor allem sehr gut Verdienende, die allein oder im Konkubinat leben. Für mich ist ein wichtiges Argument, dass diese Bevölkerungsgruppe vom bisherigen System besonders profitiert! Ihre Steuerbelastung ist deutlich tiefer als sie zum Beispiel im nahen Ausland bei ähnlichen Lebenskosten wäre. Eine sanfte Korrektur scheint mir absolut berechtigt, zumal sie zu mehr Gleichbehandlung führt.
Auch Verheiratete, bei denen nur eine Person ein Einkommen erzielt, müssen etwas mehr bezahlen – das wurde zum Teil heftig kritisiert. Es macht im Schnitt rund 90 Franken pro Jahr aus: Die Aufregung war zum Teil etwas gespielt. Sie gab aber auch Einblicke in ewiggestrige Vorstellungen der Aufgabenteilung zwischen Mann und Frau.
Weitere erwünschte Effekte der Reform
Alle Modellberechnungen kommen übereinstimmend zum Schluss: Wenn die Schweiz (endlich) die Individualbesteuerung einführt, wirkt sich das positiv auf die Erwerbsbeteiligung aller Erwerbsfähigen aus. Heute zögern vor allem Frauen, ihr Pensum auszubauen, wenn ihr zusätzlichen Einkommen wegen der Steuerprogression (und, falls sie Kinder haben, wegen der Kinderbetreuungskosten) weitgehend wieder dahinschmilzt. Das ist auch volkswirtschaftlich unerwünscht, wenn wir daran denken, dass die Gesellschaft viel in die Berufsausbildung investiert hat. Wenn die Erwerbsbeteiligung steigt, wirkt dies dem Fachkräftemangel entgegen. Zudem sinkt der Druck, die Arbeitskräfte im Ausland zu rekrutieren (und dort den Fachkräftemangel weiter anzuheizen).
Das Wichtigste aber: Egal ob Frau und Mann, Frau und Frau, Mann und Mann, mit oder ohne Ehevertrag: In Sachen Steuern sind alle Einwohner*innen gleich wichtig und gleich viel wert.