Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat mit dem Urteil zur Klage der Schweizer Klimaseniorinnen erstmals bestätigt, dass das Recht auf ein intaktes Klima ein Menschenrecht ist. Es gehört zum Rechtsanspruch auf körperliches und seelisches Wohlergehen. Wenn eine Gruppe der Bevölkerung unter den Auswirklungen der Klimakrise besonders leiden – und das tun Menschen im höheren Alter übermässig, vor allem Frauen – dann sind sie zur Klage berechtigt. Und die Bewertung des Gerichts hat ergeben, dass in der Schweiz die bisherigen Massnahmen nicht ausreichen, um den CO2-Ausstoss genügend zu reduzieren und damit die Klimakrise und ihre Folgen auf die menschliche Gesundheit abzuwenden.

Das Recht auf ein intaktes Klima ist ein Menschenrecht

Ich finde, dass dies ein grossartiges Gerichtsurteil des EGMR ist! Es ist Rückenwind für alle unsere Bemühungen – gerade auch für jene, die wir im Parlament und mit den Volksabstimmungen bereits beschlossen haben. Das Volk hat mit dem Klimaschutzgesetz die Ziele bis 2050 und ehrgeizige Zwischenziele beschlossen, am letzten Sonntag mit grossem Mehr auch das Stromgesetz: Jetzt müssen die weiteren Massnahmen folgen! Wir kommen in den Segmenten Gebäude und Industrie voran, bisher aber noch kaum beim Verkehr oder bei der Landwirtschaft, und insgesamt geht es zu langsam. Das Urteil ist aber auch Rückenwind in allen anderen Teilen der Welt, in denen mehr Treibhausgase ausgestossen werden, als es im Rahmen der Planetaren Grenzen erträglich wäre.

Im Urteil aus Strassburg wird das Land Schweiz gerügt, jedoch nicht ein bestimmtes Gremium: weder der Bundesrat noch das Parlament. Darum ist auch der Verweis überflüssig, dass bei uns das Volk das letzte Wort habe: Das weiss der EGMR selbstverständlich auch. Er ist ein Organ des Europarats, und die Schweiz trägt den Europarat sehr aktiv mit.

Die peinliche Erklärung des Ständerats und des Nationalrats

Die Mehrheit beider Räte sah sich nun bemüssigt, eine Erklärung zum Urteil des EGMR «Verein KlimaSeniorinnen Schweiz u.a. vs. Schweiz» abzugeben. Bereits der Titel der Erklärung sagt aus, wes Geistes Kind sie ist: «Effektiver Grundrechtsschutz durch internationale Gerichte statt gerichtlicher Aktivismus».

Es folgt eine lange Belehrung an das internationale Gericht (mit Schweizer Beteiligung), dieses hätte «unzulässigen und unangemessenen gerichtlichen Aktivismus» betrieben und die Souveränität unseres Staates missachtet. Aha. Es soll also unrecht sein, dass die Klimaseniorinnen am EGMR geklagt hatten, nachdem sie bei den Schweizer Gerichten nicht angehört wurden. Es wird also angezweifelt, was das Gericht mit Blick auf das Recht auf Gesundheit und Unversehrtheit festgestellt hat, nämlich dass ältere Frauen von der Klimakrise übermässig betroffen sind. Und es wird behauptet, die Schweiz hätte inzwischen alles getan, um die Klimaziele zu erreichen.

In der Ratsdebatte suchten sich die Argumente der Bürgerlichen irgendwann einen Weg ins Absurde: Nein, man wolle das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte EGMR nicht ignorieren. Das sei in der Öffentlichkeit falsch verstanden worden. Man wolle als Parlament nur dem Bundesrat mitgeben, er solle doch nach Strassburg melden, «dass die Schweiz keinen Anlass sieht, dem Urteil des Gerichtshofs vom 09. April 2024 weitere Folge zu geben, da durch die bisherigen und laufenden klimapolitischen Bestrebungen der Schweiz die menschenrechtlichen Anforderungen des Urteils erfüllt sind.»  

Die Gewaltenteilung muss immer wieder erkämpft werden

Man darf sich selbstverständlich über das Urteil ärgern, so wie man sich über andere Gerichtsurteile auch ärgern darf. Wenn nun aber beide Parlamentskammern eine solche Erklärung abgeben – auch die sich liberal nennende FDP, auch die Mitte-Partei – dann macht mir das grosse Sorgen. Es ist ein klares Signal dafür, dass diese Parlamentsmitglieder nicht hinter dem Prinzip der Gewaltenteilung stehen.

Die «dritte Gewalt» im Staat, die richterliche Gewalt, muss unabhängig urteilen können. Weder eine Regierung noch ein Parlament darf von den richterlichen Instanzen verlangen, dass sie sich unterordnen. Das gilt auch für ein überstaatliches Gericht. Die Geschichte zeigt, dass es in faschistischen Staaten immer damit beginnt, die Unabhängigkeit der Gerichte aufzuheben.

Wir müssen mehr darüber nachdenken, wie elementar die Unabhängigkeit der Gerichte für eine Demokratie ist. Darum ist der Androhung, man wolle dem Urteil keine Folge leisten, nicht einfach peinlich, sondern gefährlich. Dieser Aufruf rüttelt an einem der Grundprinzipien unseres Staates. Wir GRÜNE haben vergebens versucht, die Räte davon abzuhalten.