Es ist in den letzten Wochen viel über das Stahlwerk Gerlafingen geredet und geschrieben worden. Habe ich da noch etwas beizutragen, was nicht längst gesagt und verbreitet ist? Ich freue mich natürlich sehr, dass es der nationalen Politik gelungen ist, im Eiltempo aktiv zu werden. Damit macht sie möglich, dass Stahl Gerlafingen nicht schliessen muss, und dass auch Steeltec in Emmenbrücke sowie die Walliser Aluminiumgiessereien Constellium und Noveliseine bessere Perspektiven haben.

Vielleicht ist es nützlich, die verschiedenen Dimensionen dieser Geschichte – sozial, ökologisch, ökonomisch – etwas auseinanderzudröseln und dann wieder zusammenzusetzen.

In der Zeit zwischen der Kundgebung auf dem Bundesplatz in Bern (am 21. Oktober) und dem Beginn der Beratungen in den Umweltkommissionen waren wir zu sechst – Parlamentarier*innen beider Parlamentskammern und fast aller Parteien – zu Gast bei Stahl Gerlafingen, haben uns mit der Betriebsleitung ausgetauscht, deren Zusicherungen mitgenommen, und wir durften die Produktionsstrasse besichtigen. Für mich war es eine Premiere: Es ist alles noch viel grösser, als ich es mir vorgestellt hatte. Ein beträchtlicher Teil des Areals ruht allerdings zur Zeit.

Ökonomische Erklärungen für die schwierige Lage

Konkret hat das Parlament nun beschlossen, dass den Stahl- und Aluminiumwerken während vier Jahren ein Teil der Strom-Netznutzungsgebühren erlassen werden. Diese waren in den letzten zwei Jahren nicht zuletzt wegen der Winterstromreserve gestiegen. Stromunternehmen sind seither verpflichtet, Wasserreserven in ihren Speicherseen für allfällige Notzeiten zurückzuhalten, die es vor allem im Spätwinter geben könnte. Dafür werden sie entschädigt. Da das Schmelzen von Stahlschrott sehr viel Energie braucht und Gerlafingen diese mit Strom erzeugt, schenkt die Gebühr ein.

Das Werk war am europäischen Markt nicht mehr konkurrenzfähig. Es konnte seine Produkte nicht mehr absetzen. Dafür gibt es v.a. zwei Gründe, wobei der erste selten beim Namen genannt wird. Ich finde aber, man muss ihn genauso erwähnen:

  1. Es gibt in Europa und weltweit eine Überproduktion an Stahl.
  2. Benachbarte Länder subventionieren ihre Stahlfirmen stark bzw. erlassen ihnen die hohen Energiepreise zu einem grossen Teil.

Vier ökologische Gründe sprechen für die politische Unterstützung

Wichtigster Beweggrund dafür, dass die Politik aktiv wurde, war sicher die Rettung der Arbeitsplätze in der Region Solothurn und die Solidarität mit den rund 500 Angestellten des Werks Gerlafingen. Das ist die soziale Komponente dieser Intervention. Sie hat auch mich «bewegt» und mobilisiert.

Ich erkenne gleich vier ökologische Begründungen, warum es angemessen ist, dass die nationale Politik der Branche und spezifisch dem Standort Gerlafingen hilft:

  1. Stahl Gerlafingen verarbeitet zu 100 Prozent Schrottstahl und macht daraus Baustahl. Das Werk ist der grösste Kreislauf-Betrieb der Schweiz. Es muss kein Gestein schürfen, um zu den Rohstoffen zu kommen. Ein Grossteil des Schrottstahls fällt in der Schweiz an, und 80 Prozent der Produkte sind für Baustellen in der Schweiz. (Steeltec in Emmenbrücke stellt andere Stahlprodukte her und beliefert mehrheitlich den internationalen Markt).
  2. Geringe Transportdistanzen. Werke in Italien oder in Frankreich könnten in die Lücke springen, wenn unsere Stahlwerke schliessen müssten. Aber: In diesem Fall müsste der Schrottstahl zuerst Hunderte von Kilometern weit wegtransportiert werden, der verarbeitete Baustahl dann in Gegenrichtung zurück. Die SBB sagt, sie würde das nicht alles mit Güterverkehr bewältigen können, also kämen schwere Lastwagen auf der Strasse zum Einsatz.
  3. Erneuerbare Energie. Die Stahlwerke in den anderen europäischen Ländern erzeugen die benötigte grosse Hitze nach wie vor zur Hauptsache mit fossiler Energie: mit Kohle oder Erdgas. Gerlafingen darf sich rühmen, weitgehend CO2-frei zu produzieren.
  4. Abschalten als Gegenleistung. Die Firma bekommt nur deswegen die Stromkosten teilweise erlassen, weil sie sich verpflichtet, im Fall eines allgemeinen Engpasses ihre Produktion zu stoppen. Das lässt sich in ihrem Fall in sehr kurzer Zeit, innert zwei Stunden, ohne Schäden durchführen.
    Was ist daran ökologisch? Ganz einfach: Diese Zusicherung trägt dazu bei, dass die Winterstromreserve nicht allzu hoch hinaufgeschraubt werden muss: Im Fall einer Notlage wäre ja der einheimische Strombedarf um das stillstehende Werk geringer! Stahl Gerlafingen braucht etwa die Strommenge einer Stadt Thun…

Was sind Sündenfälle?

Die Beratungen im National- und im Ständerat waren umstritten. Es gibt nun diverse weitere Auflagen für die Konzerne, denen die Stahl- oder Aluminiumwerke gehören. Und auch der Standortkanton muss sich mit Finanzhilfen beteiligen, also auch «mein» Kanton Solothurn. Die Entscheide in den Räten waren auch so noch relativ knapp. Es gibt einen populären Grundsatz (manche sagen Glaubenssatz): «Die Schweiz betreibt keine Industriepolitik». Gemeint ist, dass die Politik nie einer einzelnen Firma oder Branche Sonderkonditionen bieten soll, wenn das Marktumfeld schwierig wird. Wenn Verluste nicht zu beheben seien, dann müssten betroffene Werke eben schliessen: Der internationale Handel richtet’s. Alles andere sei ein «Sündenfall».

Der Druck, eine solche Ausnahme zu beschliessen, steigt natürlich, wenn andere Länder genau das tun: Deren Politik verschafft mit Sonderkonditionen ihren Werken einen Marktvorteil an den internationalen Märkten. Aber wie ich oben beschrieben habe, gibt es diverse ökologische Gründe für den Erhalt der Stahlproduktion in unserem Land, welche sich auch volkswirtschaftlich auszahlen (geringere Umweltbelastung).

Damit sich der Kreislauf schliesst, sollte sich meiner Meinung nach die öffentliche Hand – Bund, Kantone, Gemeinden – verpflichten, für ihre Bauten (öffentliche Gebäude, Strassen, Brücken, Tunnels usw.) nur Stahl aus heimischer Produktion einzusetzen. Eine solche Entscheidung ist mit den neuen Submissionsregeln vereinbar.

Wir können den Satz «Die Schweiz betreibt keine Industriepolitik» jedoch auch anders entkräften. Zur Erinnerung: Der Bund hat 2008 die UBS gerettet und 2023 die CS-Übernahme durch ebendiese UBS verbürgt. Das ist Industriepolitik pur. In vielen Kantonen werden aktuell die Spitäler mit Zuschüssen in Millionenhöhe gestützt, weil sie Defizite schreiben. Oder ein anderes Beispiel: Eine satte Mehrheit des Parlaments sagt regelmässig Ja zu höheren Subventionen für die Zuckerrübenproduktion. Ohne diesen Eingriff hätten die beiden Zuckermühlen Frauenfeld und Aarberg ihre Tore längst geschlossen…