25.9.2022 / Das Hauptthema der Herbstsession in den eidgenössischen Räten ist die Energiethematik: Strom noch häufiger als Gas. Es ist viel Hektik um dieses Thema, viel Gegockel, viel Geschrei. Dabei wissen wir und spüren nur zu gut, dass weder Schreien noch Aufplustern noch Hyperventilieren taugliche Instrumente sind, angesichts dessen, was zu tun ist.

Rund ums Thema Strom erleben wir im Parlament gerade zahlreiche Erschütterungen. Wir stecken in verschiedenen Dilemmata, die Zusammenhänge sind oft paradox. Das nagt an uns Politikerinnen und Politikern, auch wenn es die meisten nicht zugeben können, sondern so tun, als ob sie die Antworten alle wüssten. In Deutschland macht Robert Habeck gerade vor, dass man als Politiker auch Zweifel und Unsicherheiten äussern darf.

Paradoxien und Dilemmata

Paradox ist zum Beispiel, wenn einer der drei grössten Stromkonzerne des Landes in einer Zeit stark steigender Strompreise so viel Geld aus dem Verkauf des kostbaren Saftes lösen kann (d.h. zu den Übergewinnern gehört) und gleichzeitig mit einem Bundes-Rettungsschirm von 4 Milliarden Franken vor dem drohenden Kollaps gerettet werden muss. Wetten, dass Axpo 2022 den grössten Gewinn der Konzerngeschichte machen wird? Befremdend ist ja auch, dass diese Firma den Kantonen gehört, allen voran Zürich und Aargau: Diese sind jedoch nicht in der Lage, den Schutzschirm aufzuspannen (und die dazu notwendigen Gesetze quasi über Nacht zu beschliessen). Auch keine Bank kann auf einen Schlag so viel Geld bereitstellen. Nur der Bund kann das: Seine Schatulle ist prall gefüllt, und das Gesetz für den Rettungsschirm (22.031)  ist nun bereits ohne Notrecht unter Dach.

Ein grosses Dilemma steckt hinter den Bemühungen zur Stärkung der Kaufkraft. Strom- und andere Energiepreise steigen rasant; die Kaufkraft sinkt. Was tun? Vorweg aber: Wer erinnert sich noch, dass wir uns jahrelang über viele Parteigrenzen hinweg einig waren: Energie ist zu billig, viel zu billig. Weil ihr Anteil an den Kosten kaum ins Gewicht fällt, wird sie oft leichtfertig verschwendet. Langezeit war der Anreiz gering, etwas weniger warm zu heizen, besser zu dämmen, kürzere Wege vorzuziehen, weniger herumzufahren, mit leichteren Fahrzeugen, bessere Effizienz in die Antriebe und Prozesse zu bringen. Und nun, da die Energiepreise anziehen – endlich, muss man fast sagen – überbietet sich die Politik mit Vorschlägen zur Entlastung der Menschen und der Betriebe. Meine Haltung dazu: Wir sollten nur Massnahmen beschliessen, welche gezielt jene stützen, die wirklich den Franken umdrehen müssen. In der ausserordentlichen Debatte vom 21. September zur Kaufkraftstärkung hatten wir nur einen Vorstoss, der dies eingelöst hätte: Die Motion 22.3782 meiner Fraktionskollegin Franziska Ryser. Sie hatte keine Chance auf eine Mehrheit. Immerhin hat ein anderer Vorstoss eine knappe Mehrheit im Nationalrat gefunden, der diesem Grundsatz nahe kommt (22.3793):  Der Bund soll nächstes Jahr seine Summe der Prämienverbilligungsgelder um 30% erhöhen. Ob der Ständerat am 26. September mitzieht?
Nachtrag am 27.9.: Nein, der Ständerat zieht (noch) nicht mit. Er hat den Entscheid vertagt und will zusätzliche Berechnungen, u.a. weil es sich auch auf die Höhe der Kantonsbeiträge auswirkt (z.B. in unserem Kanton SO).

Biodiversität: Im Einklang oder im Widerspruch zur Energiegewinnung?

Ein weiteres Dilemma ist das Abwägen zwischen dem Ausbau von erneuerbaren Energien und der Stärkung der Biodiversität. Gerade wir GRÜNE betonen oft, dass die Klimakrise und die Biodiversitätskrise Hand in Hand zu lösen sind. Das stimmt, es stimmt ganz besonders in einer weltumspannenden Betrachtung. Es kann aber auch konfliktiv sein. Das oft diskutierte Beispiel: Rechtfertigt die Erhöhung einer Staumauer die Gefährdung seltener Arten im Bereich, der neu überflutet wird? Und mit der Ständeratsdebatte (siehe 21.047) kam das zweite Beispiel so richtig aufs Tapet: Weniger Restwassermenge unterhalb der Stauseen, auch wenn dann die Fische und andere Wasserlebewesen elendiglich ersticken?

Man kann das Thema weiter denken: Biodiversität soll nicht nur im ländlichen Raum gestärkt werden, sondern auch im Siedlungsraum, so lautete am 20. September der Tenor bei der Diskussion um den Gegenvorschlag zur Biodiversitätsinitiative (Hier die Debatte: 22.025). Begrünte Dächer, Grün an den Fassaden, artenreiche Grüngürtel durch die Siedlungen – oder aber Solarpanels auf allen Dächern und an den Hauswänden; bessere Verdichtung im Siedlungsraum.

Paradox ist natürlich auch, dass wir einerseits alles daransetzen müssen, um die Abhängigkeit von Gas und Öl (sowie Benzin, Diesel, Kerosin) zu reduzieren, indem wir diese Energiequellen vermehrt durch erneuerbaren Strom ersetzen. Und gleichzeitig sollen wir den Stromverbrauch reduzieren, weil es knapp werden könnte. Auf diesen scheinbaren Widerspruch verweist die SVP bei jeder Gelegenheit genüsslich – ohne dass sie irgendwelche Lösungen zu präsentieren hat; sie gefällt sich darin, alle anderen in die Pfanne zu hauen. Ihr inszeniertes Schauspiel langweilt schnell.

Der Widerspruch ist nur ein scheinbarer. Wir können ihn auflösen! Zum einen sollen und können wir Gas und Öl selbstverständlich nicht nur mit Strom ersetzen, sondern z.B. auch mit Prozess- oder Erdwärme. Vor allem aber muss unsere Antwort immer und immer wieder heissen: Die beste Energie ist jene, die wir nicht verbrauchen. Damit lösen wir auch den Streit um Energieanlagen versus Artenschutz.

Wie geht «weniger verbrauchen»? Tipps zum sparsamen Verhalten sind ein Weg dazu. Aber das reicht nicht. In einem Interview mit der «Schweiz am Sonntag» vom 24. September sagt es mein Rats- und Kantonskollege Kurt Fluri (FDP) wie folgt: So lange wir bei 30 Grad eine Eishockeysaison starten können, haben wir offensichtlich nicht zu knapp Strom. Ich kann ihm nur beipflichten. Und ergänzen: Verlieren unsere Privathäuser an Wert, wenn sie keine Klimaanlage haben? Wollen wir diesen Tourismus, der nur floriert, wenn jedes Hotel Sauna und Whirlpool sowie jede Skipiste eine Beschneiungsanlage hat? Muss der Intercity Olten-Bern dreimal pro Stunde mit 160 km/h daherbrausen, oder würden es zweimal auch tun?

Möglicherweise habe ich nun mit meinem vorherigen Abschnitt den Eindruck erweckt, dass auch ich zu jenen Politikern gehöre, die keine Unsicherheiten und Zweifel hätten. Das wäre ein falscher Eindruck: Ich habe sie ständig. Darum plädiere ich dafür, dass wir uns etwas mehr Zeit nehmen – obwohl die Zeit drängt – dass wir die Dinge jeweils nochmals überdenken, abwägen. Nicht zuletzt deswegen bin ich ein klarer Verfechter unseres Zweikammersystems. Auch wenn ich mich öfter mal über den Ständerat ärgere…